Die drei Freunde überquerten die Grenze mitten in der Nacht nach einer mehr als zehnstündigen Reise. Tony lacht: «Das war eine happige Reise von Südfrankreich aus. Mit dem Kühlschrank, dem Stromgenerator und der Ausrüstung im Anhänger konnten wir nicht sehr schnell fahren.»
Mit nacktem Oberkörper, Bier in der Hand und einem gefiederten Trikolore-Hut auf dem Kopf bleibt der 30-Jährige nicht unbemerkt. Er empfängt uns herzlich in seinem Lager, das dank der französischen Flagge gut sichtbar ist. «Sind wir schon in der Schweiz?», fragt er uns. Und: «Übrigens, möchten Sie ein Glas Punsch?»
Infiziert wegen Virenque
An diesem frühen Nachmittag ist das Tour-Aufwärmen am Strassenrand bereits in vollem Gange. Dabei wird das Feld erst am späten Sonntagnachmittag den Anstieg nach Morgins VS bewältigen. «Wir haben unsere Frauen und Kinder zu Hause gelassen, um mal komplett abschalten zu können», fährt Tony fort. «Wir verfolgen die Tour de France schon seit über 20 Jahren. Richard Virenque hat uns mit dem Virus infiziert. Er kommt aus einem Dorf in unserer Nähe.»
Die Autos hupen, wenn sie vorbeifahren: «Allez les Frouzes!» («Auf gehts, Franzosen!») Aurélien, der eine blonde Perücke auf dem Kopf trägt, klatscht. Auch Jean-Jeff, der sich als Krankenschwester verkleidet hat, geniesst das Spektakel. «Das ist der Geist der Tour! Das Radfahren ist eine der letzten kostenlosen Sportarten. Auch deshalb ist sie so beliebt.» Wir lehnen die alkoholischen Getränke ab und fahren weiter.
Vor dem Wohnmobil von Gunnar und Ivo ist die Stimmung ruhiger. Die beiden Berliner haben eine Reihe von Deutschlandflaggen hervorgeholt. In Radkleidung machen sich die beiden Freunde bereit und feuern die Amateurfahrer an, die auf der Strasse vorbeifahren. «Los! Los!» Ihre Kastagnetten machen einen ohrenbetäubenden Lärm.
«Meine Frau wird mich sonst anschreien»
Für sie wird es eine Premiere auf der Tour sein. Sie haben neun Tage Urlaub genommen, um die Etappen in den Alpen zu verfolgen. Danach werden sie nach Alpe d’Huez weiterfahren. Für das Foto schliesst Ivo sein Trikot, drückt seine Zigarette aus und verstaut sein bayerisches Bier. «Meine Frau wird mich sonst anschreien.»
Kurz bevor wir Morgins erreichen, fällt uns eine riesige Schweizer Flagge auf. Im Schatten sitzend, verfolgen zwei Zürcher an ihrem Computer die Ankunft in Lausanne. Die 50-Jährigen sind grosse Radsportfans: «Wir waren auch schon bei Weltmeisterschaften, dem Giro und haben vielen andere Rennen verfolgt.»
Rindsfilet und Bratkartoffeln
Aber warum um alles in der Welt fährt man kilometerweit, wartet stundenlang neben der Strasse, nur um die Fahrer ein paar Minuten lang vorbeifahren zu sehen? «Das ist die Freiheit», sagt Roger. «Das Wetter ist schön, das Bier kalt und man hat seine Ruhe. Ausserdem habe ich Glück: Ivo ist ein fantastischer Koch.» Heute Abend gibt es Rindsfilet und Bratkartoffeln. «Am Sonntag gönnen wir uns auch Rösti und Speck.»
Die Freunde waren bereits am Freitag bei der Ankunft der Etappe bei der Planche des Belles Filles im französischen Jura. «Die Stimmung war aussergewöhnlich. Wir haben Leute aus der ganzen Welt getroffen. Es waren sogar Kolumbianer dabei.» Auch sie reisten über Nacht an, um sich einen guten Platz zu sichern.
Kindheitstraum geht in Erfüllung
Die meisten Wohnmobile parken am Ausgang des Walliser Ferienortes. Zwei Sonntagsradfahrer, na ja, Samstagsradfahrer, bereiten sich auf eine kleine Tour vor. Sie tragen stolz die südafrikanischen Farben auf ihren Trikots. «Wir sind aus Kapstadt gekommen», so Simon.
«Die Tour zu sehen, war ein Kindheitstraum. Ich wollte sie einmal in echt erleben.» Zusammen mit seinem Freund Thomas hat der junge Rentner sogar einen Wohnwagen in England gekauft, um das Rennen zu verfolgen. Ihre Tour de France hat gerade erst begonnen.