Sie ist vielleicht nicht die bekannteste, aber sicher eine der grössten Persönlichkeiten im Schweizer Sport: Marlen Reusser (30). Die Bernerin war einst eine talentierte Geigenspielerin, studierte an der Hochschule der Künste, war Präsidentin der Jungen Grünen im Kanton Bern und bis 2017 chirurgische Assistenzärztin. Dann stellte Reusser ihr Leben auf den Kopf, wechselte als Grünschnabel zum Radsport und wurde 2021 Europameisterin, Vize-Olympiasiegerin und Vize-Weltmeisterin.
Was auffällt: Das Energiebündel aus Hindelbank trägt ihr Herz auf der Zunge. Sie äussert sich zu Abstimmungen («Wir Schweizerinnen und Schweizer sind oft Angsthasen») und setzt sich auf und neben dem Sattel für Gleichberechtigung ein. Blick trifft Reusser im «Daiii Bike and Brew» in Zürich, einer Mischung aus Café, Velo-Laden und Rad-Werkstatt.
Blick: Marlen Reusser, gibt es eine Frage, die Sie nicht beantworten würden?
Marlen Reusser: Ich antworte immer – manchmal vielleicht mehr, manchmal weniger clever.
Sind Sie immer ehrlich?
Ja. Aber es ist nicht ganz einfach … Über gewisse Themen könnte ich tagelang philosophieren, aber ich muss es irgendwann auf einen Punkt bringen. Es gibt keine absolute Wahrheit. Manchmal lese ich Interviews von mir und sehe dabei schon selbst wieder andere Aspekte im Vordergrund. Was man sagt, hängt immer auch von der aktuellen Stimmung und von vorangegangenen Ereignissen und Gesprächen ab.
Wurden Sie für Ihre Offenheit auch schon kritisiert?
Sicher. Aber ich lese nicht unbedingt, was man mir auf Social Media schreibt. Es gibt bestimmt auch Leute, die mich doof finden.
Welches war das schönste Erlebnis 2021, abgesehen von Ihren Velo-Erfolgen?
Im Januar war ich mit der Familie in einer Hütte in den Bergen, das war mega cool. Und später mit einer Freundin in Florenz – auch das war super.
Und der schönste Moment mit dem Rad?
Zwischen Olympia und WM war ich unterwegs im Training und dachte: «Ich fliege!» Ich hatte eine super Form. Es war verrückt. Ich wusste gar nicht, was los war. Diese Energie und Kraft zu spüren, war genial. Ich fühlte mich wie Super-Woman. Keine Ahnung, ob ich so etwas je wieder erleben werde.
Viele Zeitfahr-Cracks planen haargenau, auf welchem Abschnitt sie welche Wattzahlen treten müssen. Sie auch?
Ich habe einen Velocomputer, schaue aber nicht darauf. Manchmal ist er nicht auf dem Lenker montiert, damit ich ihn nicht sehe. Ich fahre lieber nach Gefühl, höre auf meinen Körper.
Sie sind eine Quereinsteigerin, wechselten erst mit 27 zum Radsport. Gab es niemanden, der an Ihnen zweifelte?
Kürzlich habe ich vernommen, dass jemand im Verband damals gefragt hat: «Wollt ihr wirklich noch eine 27-Jährige fördern?» Zum Glück wurde diese Stimme innerhalb des Verbands nicht gehört und ich sehr wohl gut gefördert.
Es lohnte sich.
Einige meinten, so ein Aufstieg wie meiner sei nur im Frauen-Radsport möglich. Aber ich habe halt einfach einen guten Motor (schmunzelt). Und mittlerweile werden auch im Männer-Radsport Quereinsteiger rekrutiert.
Mehr zum Radsport
In Tokio haben Sie Silber geholt und vor Glück geweint. Bei der WM gewannen Sie ebenfalls Silber, mussten aber vor Enttäuschung weinen …
Ein interessanter Gedanke, das habe ich mir noch gar nie so überlegt. Das hängt halt mit der Erwartungshaltung zusammen. Vor Olympia waren sie kleiner, bei der WM wollte ich aber Gold – es war in dem Moment sehr enttäuschend, dass es nur Silber wurde. Aber ich fing mich schnell.
Wo sind die Medaillen jetzt?
Sie hängen zu Hause an einem Nagel in der Wand.
2022 kommt die Tour de France der Frauen wieder aufs Programm. Können Sie die Tour eines Tages gewinnen?
Das hängt von ihrem Profil ab. Wenn es meinen Stärken entspricht, ist es zumindest nicht ausgeschlossen. Aber ausgeschlossen sind viele Dinge im Leben nicht (schmunzelt).
Es sollte nicht viele Bergetappen haben.
Genau. Und am liebsten ein oder zwei lange Zeitfahren.
Seit 2017 ist MeToo ein grosses Thema – auch im Sport. Und 2021 wurden im Turnen mehrere Übergriffe gegenüber jungen Frauen aufgedeckt. Haben Sie als Sportlerin schon schlechte Erfahrungen gemacht?
Ein sexueller Übergriff? Nein. Die physische Grenzüberschreitung ist ja «nur» die Spitze eines Eisbergs, an dessen Basis ein falsch geartetes Denkkonstrukt steht.
Sie sprechen Frauen-Diskriminierung an.
Wenn ich mich früher an einen grossen Tisch setzte, war ich vor allem «eine junge, nicht hässliche Frau». Sehr ernst genommen wird man mit dieser Ausgangslage nicht unbedingt. Das ist mittlerweile anders. Was ich im Leben erreicht habe, verschafft mir Respekt. Mir gefällt aber nicht, dass dies dafür vonnöten war. Ich denke da an alle anderen jungen Frauen.
Wurden Sie auch schon blöd angemacht?
Das gab es.
Auch im Radsport?
Ja. Ein Funktionär sagte mir mal: «Ganz ehrlich, unter uns. Entweder bist du eine hübsche Frau, mit der man ins Bett kann. Oder du bist ein Mannsweib und im Radsport. Beides zusammen geht nicht.»
Tatsächlich?
Er fand, dass der Radsport nichts für Frauen ist – er sei zu hart, sie sollten sich lieber um Kinder kümmern.
Wie reagierten Sie?
Ich fragte: «Bin ich nun hässlich oder scheisse auf dem Velo?»
Was antwortete er?
Ich sei ein Sonderfall, meinte er ausweichend (schmunzelt). Aber wenigstens sagte er offen seine Meinung, so konnten wir darüber diskutieren. Eine Meinung nur zu spüren, ist äusserst demütigend.
Sie feiern Weihnachten, sind aber nicht sehr religiös. Was passiert mit Ihnen nach dem Tod?
Dann kehrt Ruhe ein! (Lacht) Nein, im Ernst: Ich denke pragmatisch, da stellt einfach etwas ab. Man existiert aber in den Köpfen anderer wohl weiterhin.
Was wünschen Sie der Welt für 2022?
Dass wir unser Wirtschaftssystem ändern. Es braucht mehr Erhalt und weniger Wachstum. Denn: Die Bombe ist drauf und dran, zu platzen.