Im November 2022 denkt Yannis Voisard darüber nach, alles hinzuschmeissen. Und das, obwohl er einer der talentiertesten Schweizer Radfahrer ist. Kein Wunder: Soeben hat ihm das französische Team Arkéa Samsic mitgeteilt, dass man doch keinen Platz für ihn habe. Seine Hoffnungen auf eine Profi-Karriere schienen sich in Luft aufzulösen. «Ich fuhr zwar gut Velo, war aber nicht mehr sehr jung. Und ich hatte mit meinem Biologiestudium ein zweites Standbein, das mir sehr viel Spass machte», erzählt der heute 25-Jährige.
Sprich: Voisard hätte guten Grund für einen Rücktritt gehabt. Warum er ihn nicht gab? «Ich war danach drei oder vier Wochen im Labor. Das Radfahren war weit weg, ich habe überhaupt nicht mehr daran gedacht. Doch genau das hat in mir die Lust geweckt, es doch noch einmal zu versuchen.»
Er brauchte Zeit – und bekam sie
Es hat sich gelohnt. Auch, weil ihm das Schicksal in die Karten spielte. Voisard wurde Teil des soeben entstandenen Schweizer Rad-Teams Tudor. Er machte im Juni 2023 den Bachelor in Biologie («Nun habe ich etwas in der Tasche») und ist heute die grösste Schweizer Hoffnung bei der Tour de Romandie (23. bis 28. April).
«Yannis’ Karriere ist typisch für jene eines Rad-Talents in der Schweiz. Wegen unseres Ausbildungssystems dauert es bei uns länger als in vielen Ländern, ehe sich Athleten voll auf den Sport konzentrieren können. Wir versuchen, zu verhindern, dass sie vorher aufgeben, und lassen ihnen jene Zeit, die sie benötigen, um ihr ganzes Potenzial zu entwickeln», sagt Tudor-CEO Raphael Meyer.
Er traut Voisard in der Westschweizer Rundfahrt eine Platzierung in den Top 10 zu. Das schafften in den letzten zehn Jahren nur zwei Radgenossen: Mathias Frank (2014, 2016) und Gino Mäder (2022).
Der Traum: ein Sieg im Giro
Voisard ist nach Mäders tragischem Tod bei der Tour de Suisse im letzten Juni die grösste Schweizer Hoffnung bei Rundfahrten. Zuletzt deutete der 58-Kilo-Mann bei der Abruzzen-Rundfahrt seine Klasse an. Er wurde Fünfter und hielt in den Bergen lange mit den Besten mit.
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Das ist aber nicht alles: Der Jurassier aus Fontenais hat neben den Kletter-Qualitäten ein weiteres Merkmal, dass ihn zum Gesamtklassementsfahrer macht: seine Stärke im Zeitfahren. Für ein Leichtgewicht ist das nicht selbstverständlich. «Es ist das erste Jahr, dass ich mich voll und ganz aufs Velofahren konzentriere. Darum kenne ich meine Limiten noch nicht», meint Voisard.
Fakt ist: Am liebsten würde er eines Tages den Giro gewinnen. «Diese Rundfahrt ist so hart, dass sie mich mehr fasziniert als die Tour de France», sagt er. Allerdings wird Tudor Voisard in diesem Jahr nicht für den Giro aufbieten. Das Motto auch hier: Schritt für Schritt.
Er würde gerne Naturkatastrophen verhindern
Voisard ist ein Spätstarter. Bis 12 spielte er Fussball. «Den FC Barcelona und Lionel Messi mochte ich am liebsten», sagt er. Das Talent auf dem Velo war letztlich grösser – wobei seine Familie ihn nicht unter Druck setzte. «Keiner hat einen Hintergrund im Radsport. Vielmehr vermittelten mir meine Eltern die Freude an der Natur, zum Beispiel bei langen Wanderungen», erzählt er.
Genau darum kann er sich gut vorstellen, nach der Velo-Karriere etwas in diesem Bereich zu tun. «Umwelt-Ingenieur, das würde mich reizen. Ich würde sehr gerne daran arbeiten, wie man Naturkatastrophen verhindern kann», so Voisard. Vorerst liegt der Fokus aber auf dem Velo. «Der Rest hat Zeit», sagt er gelassen.