Er ist zwar erst 25 Jahre alt, hat aber schon 459 Profi-Rennen bestritten: Marc Hirschi. Der Berner ist mit allen Wassern gewaschen – auch, was das Fahren bei unterschiedlichsten Wetterverhältnissen betrifft. Er fuhr schon oft bei mörderischer Hitze, aber auch bei Eiseskälte. Was Hirschi allerdings am vergangenen Mittwoch erlebte, war das Extremste überhaupt. «Stimmt», sagt er am Telefon. Gerade hat er mit seinem Team UAE Emirates die Rekognoszierung von Lüttich–Bastogne–Lüttich beendet und liegt auf dem Massagetisch. «Ich habe am ganzen Körper gezittert, meine Beine erholten sich nicht mehr, ich hatte kein Gefühl in den Fingern, und auch das Essen und Trinken war schwierig», so Hirschi.
Welches Rennen er meint, ist klar: die Flèche Wallonne. Als einer der Favoriten gehandelt, gab Hirschi 60 Kilometer vor dem Ziel völlig entkräftet auf. Wenige Meter hinter ihm wurde Matias Skeljmose (23, Dä), der letzte Sieger der Tour de Suisse, schlotternd vom Rad in den Bus getragen. Insgesamt gaben 131 von 175 Fahrern das Rennen auf. «Am Start war es noch schön gewesen. Doch irgendwann kam plötzlich der Regen, es schneite sogar. Um etwas Richtiges anzuziehen, hätte ich anhalten müssen – dann wäre das Rennen gelaufen gewesen. Also habe ich es weiter versucht – doch irgendwann ging es nicht mehr. Das ist schon sehr bitter.»
Tatsächlich ist Hirschi in blendender Form, beim Amstel Gold Race vor einer Woche wurde er Zweiter – nur wenige Zentimeter fehlten zum Sieg. Vor dem Ende der Ardennen-Trilogie in Lüttich rückt er allerdings wieder in die zweite Reihe. Warum? Weil Superstar und Teamkollege Tadej Pogacar (25, Sln) wieder ins Geschehen eingreift. «Ich werde wohl einer seiner letzten Helfer sein. Alles ist auf ihn ausgerichtet», so Hirschi.
«Wir haben viel zusammen gelacht»
Das Wetter wird auch beim ältesten noch ausgetragenen Eintagesrennen der Welt nicht so sein, wie man sich den Frühling wünscht. Erneut sind kühle Temperaturen angekündigt. Immerhin soll es nicht mehr schneien und wie verrückt winden. So oder so: Im Vergleich zu dem, was Hirschi vergangenes Jahr beim tragischen Tod von Gino Mäder (1997–2023) an der Tour de Suisse erlebte, sind die Wetterkapriolen in Belgien nur eine Randnotiz.
«Ich denke häufig an Gino – auch an den Rennen. Wenn wir an Orten vorbeifahren, wo wir etwas gemeinsam erlebt haben, sowieso.» Zwar sei er immer noch unendlich traurig, dass sein guter Freund nicht mehr da sei, es seien aber nicht nur schlechte Erinnerungen, die hochkommen würden. «Da ist viel Schönes dabei. Wir haben einiges erlebt und viel zusammen gelacht.»
Gelbe und Rote Karten? «Einige wären vorsichtiger»
Hirschi brauchte nach Mäders Unfall einige Zeit, ehe er wieder die Motivation fand, aufs Velo zu steigen. Dachte er in dieser Zeit auch an Rücktritt? «Das nicht, nein. Aber es gibt schon gefährliche Situationen in Rennen, wo ich mich frage, wie viel Risiko ich eingehen will. Da bremse ich vielleicht auch mal früher.»
Die vielen Stürze und Verletzungen der vergangenen Monate verstärkten Hirschis Gedanken. «Alles wird immer schneller – auch das Material. Und man muss oft vorn fahren, wenn man etwas mit dem Ausgang des Rennens zu tun haben will. Doch auch dort ist alles hektischer als früher.» Die Gelben und Roten Karten, die der Rad-Weltverband analog dem Fussball künftig einführen möchte, hält der Mann aus Ittigen für einen guten Versuch. «So würden wohl einige etwas vorsichtiger fahren.»
Keine Tour de France, Heim-WM als grosses Ziel
Hirschis grosses Ziel in diesem Jahr ist die WM in Zürich (21. bis 29. September). «Eine Heim-WM werde ich wohl nur einmal erleben. Eine einmalige Chance. Ich werde alles versuchen, um dann zu gewinnen.»
Bei der Tour de Suisse wird er auf Etappenjagd gehen, die Tour de France steht aber nicht in seinem Programm. Und Olympia? «Da haben wir Schweizer nur zwei Startplätze. Ich würde gern hin – mal schauen, ob es klappt.»