Blick: Sie feiern ausgerechnet am Tag des WM-Zeitfahrens ihren 30. Geburtstag. Gibts nur im Falle einer Medaille einen Kuchen?
Marlen Reusser: Ich hoffe nicht! Nach dem Rennen würde ich so gerne etwas Süsses essen (lacht).
Sie sind frisch gebackene Europameisterin im Zeitfahren. Und bald Weltmeisterin?
Ich habe immer gesagt, dass ich an meinem 30. Geburtstag WM-Gold holen will. Jetzt bekomme ich diese einmalige Chance. Ich hoffe, es klappt.
Was machen die 30 Jahre mit Ihnen?
Es ist eine Station des Lebens, wo man nicht mehr 100 Prozent jung ist. Der Jugendbonus ist weg. Aber ich habe kein Problem damit. Der Geburtstag erinnert mich daran, wie die Zeit fliegt.
Welches war das schönste Jahr Ihres Lebens?
Da kann ich keines rauspicken. Ich hatte ein so schönes Leben bislang. Ich hatte eine tolle Kindheit und auch die letzten Jahre waren super.
Ihr schönstes Geburtstagsgeschenk bislang?
Nichts Materielles. Es war wohl eine Begegnung, oder schöne Worte einer Person, die man liebt.
Wo liegt ihre Olympia-Silbermedaille?
Das ist ein Geheimnis.
Sind Sie froh, dass Sie nicht Gold holten?
Diese Medaillen blättern offenbar ab. Nein, das wäre kein Problem. Ich finde es sogar ziemlich cool, dass sie abblättern. Das ist ein Echtheitsmerkmal - ich finde es super, dass sie alle Medaillen aus Recycling-Metall erstellt haben.
Was macht Sie neben dem Sport glücklich?
Menschen.
Und was nervt?
Wohin unsere Gesellschaft weltweit hinsteuert. Es muss immer alles schneller und einfacher gehen. Damit stehen wir uns selbst im Weg. Ich hoffe, wir entschleunigen uns künftig wieder und tragen Sorge zu uns und zur Umwelt.
Sie waren bei den Jungen Grünen. Wie ist es in der Politik?
Für mich war es total ernüchternd. Es braucht so viel Kraft, um auch nur etwas Kleines durchzusetzen. Ich habe höchsten Respekt vor allen, die sich politisch engagieren, denn ist es eine zermürbende Arbeit. Besonders traurig ist, dass man immer damit beschäftigt ist, irgendwelche hohlen Vorlagen von irgendwelchen Dödels zu bekämpfen, anstatt die Zeit in etwas Positives zu investieren.
Wie denken Sie über die Vorlage «Ehe für alle»?
Es ist absurd, dass wir im Jahr 2021 überhaupt darüber abstimmen müssen. Wenn Herr Müller Herr Dänzig heiraten möchte, soll er das doch tun dürfen.
Sie sind ausgebildete Ärztin. Ein Kindheitstraum?
Nein. Das Studium interessierte mich einfach. Der menschliche Körper ist ein Wunderwerk – enorm spannend.
Welcher ist der schönste Flecken der Schweiz?
Es gibt so viele. Während Corona haben wir gemerkt, dass wir nicht immer ins Ausland reisen müssen, sondern das Paradies vor der Haustüre haben.
Was wollen Sie unbedingt noch erleben?
Ganz vieles. Ich will auf keinen Fall auf dem Sofa sitzen und nur zuschauen. Aktiv sein birgt ein gewisses Risiko, man kann auch Schlechtes erleben. Aber eben auch Gutes.
Ein peinliches Erlebnis?
Eine Schulkollegin aus dem Schangnau sagte, dass eine Kuh auf dem Hof ihrer Eltern 80 Liter Milch pro Tag geben kann. Ich sagte laut: «Das ist ja mehr als ich!» Alle lachten laut, ich checkte den Witz nicht. Ich meinte natürlich, dass ich weniger als 80 Kilo schwer war und nicht, dass ich auch Milch gebe. Diesen Gag bekam ich das ganze Gymi noch zu hören.
Blind Date oder romantisches Dinner?
Dinner. Da hat man jemanden, den man kennt.
Djokovic oder Nadal?
Eine Mischung aus ihnen.
Bier oder Wein?
Weisswein mit Sirup.
Twitter oder Instagram?
Theoretisch Twitter, aber aus pragmatischen Gründen Instagram.
Buch oder TV?
Buch.
Wovor haben Sie Angst?
Höhen machen mir nichts aus, aber bei Abhängen kriege ich Panik.
Was gibt Ihnen Kraft?
Alle, die mir etwas geben und nicht nur nehmen. Und die Natur.
Sie gewinnen im Lotto eine Million. Was machen Sie?
Ich würde mir überlegen, wie ich es investieren kann, damit es der Gesellschaft etwas bringt. Materielle Träume habe ich nicht.
Wie schalten Sie ab?
Lesen, Musik hören, ein gutes Gespräch – das alles fährt mich runter.
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Was machen Sie mit 40?
Vielleicht bin ich Ärztin in einem Spital oder in einer Praxis. Oder Bundesrätin (schmunzelt).
Werden Sie Ihre Organe spenden?
Auf jeden Fall, ich habe einen Ausweis.
Welche öffentliche Person bewundern Sie?
Viele. Zum Beispiel Ariella Kaeslin, die offen darüber gesprochen hat, wie sie und ihre Turn-Teamkolleginnen psychischen Missbrauch erleben mussten.
Welcher ist Ihr Trick, um auf dem Rad die Schmerzen zu vergessen?
Der Wichtigste ist die Bereitschaft zu haben, in die Zone einzudringen, wo es wirklich weh tut. Früher hatte ich Mühe damit. Heute sage ich mir: «Jetzt bin ich da, wo es schmerzt. Genau das wollte ich.»
Welche ist die dümmste Frage, die Ihnen je gestellt wurde?
Wenn ich im Nati-Dress unterwegs bin und man mich fragt, aus welchem Land ich komme.
Was wollten Sie schon immer loswerden?
Wir Schweizerinnen und Schweizer sind oft Angsthasen. Sobald eine Abstimmung da ist, bei der wir uns das Leben einfacher machen könnten, schneiden wir uns ins eigene Fleisch. Die Personen, die so viel haben, könnte man mehr zahlen lassen. Und jenen, die hart arbeiten, Familie haben und beissen müssen, könnte man das Leben etwas erleichtern.