Nach Tod von Muriel Furrer (†18): Rad-Profis, Experten und Trainer machen zahlreiche Vorschläge
Wie wird der Profi-Radsport sicherer?

Vier Todesfälle in gut einem Jahr, dazu eine statistisch belegte Zunahme schwerer Stürze. Für Velo-Insider ist klar: Der Radsport muss sicherer werden. Sie haben verschiedene Ideen, wo man ansetzen könnte.
Publiziert: 08.10.2024 um 00:01 Uhr
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Aktualisiert: 08.10.2024 um 08:50 Uhr
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Muriel Furrer wurde nur 18 Jahre alt. Ihr tragischer Unfall ist aber nicht der einzige in den vergangenen Jahren.
Foto: Imago

Auf einen Blick

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Mathias GermannReporter Sport

Noch sind viele Fragen in Bezug auf den Unfall und den Tod von Muriel Furrer (†18) offen. Die Polizei und die Staatsanwaltschaft ermitteln. Für OK-Präsident Olivier Senn ist allerdings klar: «Solche Fälle dürfen nicht wieder passieren.»

Genau deshalb wird auch er sich dafür einsetzen, dass der Druck auf den Rad-Weltverband erhöht wird. Doch welche Verbesserungen in Bezug auf die Sicherheit stehen im Fokus?

Gerade wenn es um den Unfall von Furrer geht, wird die Forderung nach dem GPS-Tracking laut. Damit hätte man die Zürcher Juniorin, die gemäss Blick-Informationen mindestens 75 Minuten unentdeckt im Wald lag, deutlich schneller gefunden.

Ex-Profi Martin Elmiger (46) erzählt: «Mein ehemaliger Velo-Kollege Steven de Jong fuhr vor einigen Jahren eine Trainingsrunde. Er stürzte schwer und blieb bewusstlos hinter einer Mauer liegen. Weil er das GPS-Tracking auf seinem Velo installiert hatte, hat jemand von seiner Familie daheim bemerkt, dass sich der Punkt nicht mehr bewegt. Dann sind sie zu ihm gefahren – punktgenau. Zum Glück geht es ihm heute wieder gut.»

UCI-Erklärung erstaunt Ex-Profi Elmiger

Muriel Furrer hatte dieses Glück nicht. Ob ein GPS-Tracker, dessen Daten auch live überprüft worden wären, ihr Leben gerettet hätte? Man wird es wohl nie erfahren. Aber sie wäre mit grosser Sicherheit früher entdeckt worden.

«Am einfachsten wäre es, vor dem Rennen jedem Fahrer ein Armband zu geben, das er anziehen muss. Darin könnte man nebst dem GPS-Tracker auch den Transponder, der heute für die Messung der Zeiten benutzt wird, integrieren», meint Elmiger. So könne eine Person auf dem Monitor überwachen, ob sich immer alle Fahrer bewegen. «Und wenn nicht, direkt mit den sportlichen Leitern in den Fahrzeugen Kontakt aufnehmen. Diese würden mittels Funk nachfragen, ob alles in Ordnung sei. Und bei einem allfälligen Unfall selbst dorthin fahren oder die Rettungskräfte alarmieren.»

Elmiger schätzt den finanziellen Aufwand für ein solches System als nicht besonders hoch – auch nicht für kleinere Wettkämpfe. Und ergänzt: «Wenn uns das ermöglicht, auch nur ein Menschenleben zu retten, müssen wir uns das leisten.» Vom Weltradsportverband UCI hiess es zuletzt gegenüber SRF, dass ein GPS-Tracking derzeit nicht in der Lage sei, alle Fahrer eines Rennens jederzeit zu lokalisieren – wegen Signalunterbrüchen. Deshalb sei dies keine geeignete Sicherheitslösung.

«Diese Erklärung hat mich sehr erstaunt», so Elmiger. «Natürlich kann man auch mal ein Funkloch haben. Aber das ist doch keine Begründung, um auf diese Technologie gänzlich zu verzichten.»

Fahrer beherrschen ihr Velo zu wenig gut

In ihrem WM-Rennen hatte Muriel Furrer nicht einmal eine Funkverbindung zum Auto von Swiss Cycling – dies ist bei Weltmeisterschaften so vorgesehen, um die Spannung in den Rennen zu erhöhen. «Leider haben sich viele Fahrer, vor allem junge, in den vergangenen Jahren zu Robotern entwickeln. Sie schauen nur noch auf ihren Velo-Computer und hören auf die Anweisungen, die sie mittels Funk erhalten», sagt Bruno Diethelm. Der ehemalige Mountainbike-Nati-Trainer fordert nicht nur ein GPS-Tracking-System, sondern mehr Eigenständigkeit der Fahrer. Diese würde den Radsport ebenfalls sicherer machen.

«Dazu braucht es ein Umdenken in den Teams. Häufig wird nur darauf geschaut, wie viel Watt ein Fahrer am Berg treten kann. Sind die Werte gut, erhält er einen Vertrag. Aber wie bewegt er sich im Feld, wie steuert er Kurven an, wie reagiert er in brenzligen Situationen? Diese Dinge sollte man auch berücksichtigen.» Weil Diethelm bei Strassenfahrern schon vor Jahren Defizite erkannte, führt er immer mittwochabends Radquertrainings im Wald und auf Wiesen durch – oft bei schlammigem Boden. «So lernt man am besten, das Velo zu beherrschen», sagt er.

«Der Verkehr wird langsamer, wir aber immer schneller»

Silvan Dillier (34) machte davon lange Gebrauch – auch dann, als er schon längst Profi war. Er weiss, wie wichtig das Handling des Velos für die Sicherheit ist. Der Aargauer betont, dass zuletzt viel für die Sicherheit gemacht worden sei – auch bei der WM. «Die Strecke war vielerorts mit Gittern abgesteckt, es hatte grosse Hinweise für Kurven, Matten an fast allen Ecken. Ebenfalls wurden für die WM ganze Verkehrsinseln wegradiert und Verkehrsberuhiger abgeflacht.» Er sieht eine grundlegende Problematik: «Man versucht, im Alltag den Autoverkehr zu verlangsamen, wir im Radsport werden aber immer schneller.»

Das lässt sich faktisch belegen: Die Durchschnittstempi der Fahrer werden von Jahr zu Jahr höher. Material, Training, Ernährung, Erholung: Alles wird ständig professioneller. Wie im Skisport gibt es daher Bestrebungen, den Sport langsamer zu machen. «Man könnte zum Beispiel die maximalen Übersetzungen für Rennen festlegen. So wäre es schwierig, zum Beispiel bei Abfahrten, noch mehr zu beschleunigen», sagt Fabian Cancellara (43), Chef des Schweizer Teams Tudor Pro Cycling. Auch die in den vergangenen Jahren schmaler gewordenen Lenker wären zu diskutieren – dadurch sind die Velos windschlüpfriger, aber weniger gut zu manövrieren.

Airbags? Dickere Kleidung? Schwierig ...

Die Ideen zur Nutzung von Airbags, Rückenprotektoren oder dickerer Kleidung finden dagegen wenig Anklang. «Das ist nicht wie bei einem Skirennen, wo die Athleten zwei oder zweieinhalb Minuten unterwegs sind. Sie fahren teilweise sechs Stunden lang bei 35 Grad», sagt Thorsten Hammer. Der Deutsche war zwölf Jahre lang Rennarzt bei der Tour de Suisse und plädiert zum Beispiel für die Nutzung eines Crashsensors, der am Helm angemacht werden könnte. Dieser würde bei einem Aufprall automatisch ein Notrufsignal auslösen.

Spannend findet Hammer die bereits existierenden Kopf-Airbags, die sich nach einem Aufprall sofort um den Kopf stülpen und ihn schützen. «Dabei trägt man aber keinen Helm, was ich nicht gut finde. Vielleicht kann man ein System erfinden, bei dem dieser Airbag im Helm integriert ist und sich dann aufbläst.»

Bessere Helme und eine Rückkehr zu alten Reifen?

Die immer häufigeren Kopfverletzungen geben auch Fabian Lienhard (31) zu denken. «Es fällt schon auf, wie häufig es zu Kopfverletzungen kommt.» Der Zürcher ist seit zehn Jahren Profi und war auch bei der WM in Zürich dabei. «Wenn ich meinen Helm von heute vergleiche mit jenem, den ich zu Beginn der Karriere trug, ist er nicht viel anders. Klar, die Aerodynamik ist besser, er ist auch leichter. Aber der Kern des Systems ist noch immer hartes Styropor.» Die immer schneller werdenden Rennen durch das stets bessere Material geben auch ihm zu denken. So sehr, dass er meint: «Da muss man mal einen Riegel schieben.»

Wie genau wisse er auch nicht, so Lienhard. Beim Thema Sicherheit sieht er einen weiteren Aspekt: «Die Tubeless-Reifen, die wir heute haben, sind schön zu fahren. Aber wenn man einen Platten hat oder sie explodieren, sind sie kaum zu kontrollieren. Ich habe schon einige grobe Stürze deswegen gesehen. Bei den früheren Schlauchreifen war das viel besser.»

Live-Medizincheck mit möglicher Zwangspause

Ex-Ironman Jan van Berkel (38) würde sich ebenfalls einen verbesserten Kopfschutz wünschen. Er plädiert dafür, dass man den Einsatz von Technologie vermehrt zulässt, und hat eine besondere Idee: «Ich könnte mir einen Medizincheck vorstellen, der live an biometrischen Daten geschieht und gewissen Fahrern vor einer gefährlichen Abfahrt eine kurze Zwangspause gibt, analog zu wie es bei Ultramarathons durch Ärzte auf der Strecke geschieht. Dazu müssten biometrische Daten gemessen und analysiert sowie ein Algorithmus entwickelt werden, der Fahrer einschätzt und ihnen Aufmerksamkeitsdefizite wegen Überbelastung nachweist.»

Ideen, Vorschläge und Forderungen gibt es viele. Sie werden Furrer nicht zurückbringen, könnten aber womöglich künftig Leben retten. Einig sind sich alle in einem: Es muss im Radsport etwas passieren – nicht irgendwann, sondern rasch.

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