Gestern Donnerstag kurz vor Mittag. Genau eine Woche nach der schrecklichen Tragödie, bei der Muriel Furrer (†18) ums Leben kam, verwandelt sich die mutmassliche Unfallstelle im Wald oberhalb von Küsnacht ZH immer mehr in eine Gedenkstätte. Mit Kerzen, Bildern, Blumen und einer Christbaumkugel wird dem viel zu früh verstorbenen Zürcher Rad-Talent gedacht.
Immer wieder kommen Leute zu Fuss, mit dem Auto oder dem Fahrrad zur Unfallstelle, um kurz innezuhalten und zu trauern. Kommt man mit den Menschen ins Gespräch, beschäftigt sie allesamt noch immer vor allem eine Frage: Wie kann es sein, dass hier eine Rennfahrerin während eines WM-Rennens unbemerkt verunfallt und danach um die eineinhalb Stunden schwer verletzt liegen geblieben ist, ohne Hilfe zu erhalten?
Für diese Menschen ist klar: Das kann nicht sein. Irgendjemand muss doch etwas bemerkt haben. Neue Blick-Recherchen zeigen aber, dass es gemäss derzeitigem Wissensstand mit grosser Wahrscheinlichkeit wirklich so gewesen sein muss, dass keiner etwas mitgekriegt hat.
Blick sprach in den letzten Tagen mit vielen Menschen. Mit Ordnungskräften und Zuschauern, die am Donnerstag während des U19-Rennens an der Strecke waren. Mit einer Hündlerin, die gemäss ihren Aussagen gesehen hat, wie die Spurensicherung an der Unfallstelle ihre Sachen zusammengeräumt hat. Mit einer Fahrerin, die kurz hinter Furrer die Abfahrt hinunterfuhr. Und mit einem Ordner von der Streckensicherung, dem Furrer etwa 200 Meter vor der Unfallstelle entgegengekommen sein muss. Sie alle möchten nicht namentlich genannt werden.
Fügt man all diese Aussagen zusammen, ergibt sich ein Bild, das mit sehr grosser Wahrscheinlichkeit der Realität entspricht. Es sei denn, jemand lügt gnadenlos oder es gibt einen bisher unbekannten Einfluss von aussen, wie zum Beispiel ein Reh, das die Strasse überquert hat.
Das sind zurzeit die drängendsten Fragen und die Antworten darauf.
Warum kann es sein, dass gleich drei Zivilschützer, die unterhalb der Unfallstelle standen, nichts gesehen haben?
TV-Aufnahmen zeigen: Als die Spitzengruppe im U19-Rennen die spätere Unfallstelle passierte, standen 50 Meter weiter unten ein und noch 50 Meter weiter unten zwei Zivilschützer. Der Unfall von Furrer ereignete sich aber erst drei Minuten später. Wo die Zivilschützer zu diesem Zeitpunkt standen, ist nicht klar. Hätten sie dann noch immer an der gleichen Position gestanden und nach oben geschaut, hätten mindestens zwei freien Blick auf die Unfallstelle gehabt. Aber: Die Aufgabe der Zivilschützer war es nicht, auf die Strecke zu schauen oder die Fahrerinnen zu warnen. Sie mussten dafür sorgen, dass niemand die Rennstrecke betritt. Deshalb waren sie auch an zwei Feldwegen positioniert, die beide zur Hauptstrasse hinführen.
Wie konnte jemand unbemerkt etwa eineinhalb Stunden schwer verletzt im Wald liegen?
Eine Anwohnerin, die mit ihrem Hund Tag für Tag in diesem Waldstück unterwegs ist, sagte am Donnerstag zu Blick: «Es gibt auf der ganzen Abfahrt nur zwei oder drei Stellen, in denen man von der Strasse abkommen und dann unbemerkt vom Wald verschluckt werden kann. Dass das bei Muriel offenbar genau an einer davon passiert ist, das ist einfach nur ein schrecklicher Zufall.»
Ein Augenschein vor Ort bestätigt das. Wenn niemand entdeckt hat, wie Furrer von der Strasse abkam, dann gab es auch keinen Grund, zur Unfallstelle hinzulaufen und dort im verwucherten Wald zu schauen, ob da jemand liegt.
Warum hat niemand auf die Tracking-Daten geschaut und Alarm geschlagen?
Weil gar niemand die Möglichkeit dazu hatte. Weder der Organisator noch zum Beispiel Swiss Cycling hatten während der WM-Rennen Live-Daten der Fahrerinnen. Deshalb konnte lange Zeit keiner merken, dass etwas nicht stimmte.
Warum lief ein Streckenposten in der Nähe und zum Zeitpunkt des Unfalls die Strecke hoch?
Gemäss Blick-Recherchen und dem Video eines Leserreporters war eine Ordnungskraft oberhalb der späteren Unfallstelle unterwegs, als erst die Spitze und etwa drei Minuten später auch Furrer an ihm vorbeifuhren. Blick konnte mit dem Mann reden. «Dass man als Ordnungskraft sich am Streckenrand bewegt, ist normal. Man muss sich zuerst einen Überblick verschaffen und dann entscheiden, wo es am sinnvollsten ist, die Fahrer zu warnen.»
Der Mann erklärt glaubhaft, er habe vom Unfall nichts mitbekommen. «Wenn man während eines Rennens am Rand der Strasse unterwegs ist, muss man sehr aufpassen. Deshalb hat man keine Zeit, um zu schauen, wer alles einem entgegenkommt. Ich habe nichts gesehen, was mich beunruhigt hat.»
Wie kann es sein, dass die Fahrerin, die hinter Furrer fuhr, laut eigenen Aussagen nicht alles gesehen hat?
Am Dienstag liess die Fahrerin, die hinter Furrer fuhr, gegenüber Blick ausrichten, dass sie wahrnehmen konnte, wie die Schweizerin von der Strecke abkam, aber nicht, wie sie gestürzt sei. Seitdem fragen sich viele, ob das glaubwürdig sei. Ja, das kann sein, sagen Personen, die schon lange im Velo-Zirkus tätig sind. So zum Beispiel auch die Ordnungskraft, die in der Nähe war. «Bei solch schwierigen Wetterverhältnissen muss man sich voll auf sich selbst konzentrieren und schauen, dass man selber keinen Unfall baut. Deshalb kann es schon sein, dass man aus dem Augenwinkel zwar etwas gesehen hat, dem aber in diesem Moment wenig Bedeutung beimisst.»