Ein Rennen noch, dann ist die Rad-Saison 2023 in Europa zu Ende. Zeit, um ein Fazit zu ziehen. Was ist aus Schweizer Sicht hängen geblieben? Die Antwort ist so eindeutig wie traurig: vor allem der Tod von Gino Mäder. Der Mann mit dem grossen Motor und dem noch grösseren Herz verstarb am 16. Juni, einen Tag nach seinem Sturz am Albulapass. Er wurde nur 26 Jahre alt.
«Gino ist immer bei mir, egal ob im Training oder in den Rennen. Die Erinnerungen kommen immer wieder, auch die schönen. Gleichzeitig wurde mir wieder bewusst, wie gefährlich Velofahren sein kann – bei Abfahrten bremse ich sicher mehr als früher», sagt Marc Hirschi (25).
Er weiss wieder, wie man gewinnt
Der Mann aus Ittigen BE war mehr als nur Kollege Mäders. Sie waren seit ihrer Kindheit Freunde. Klar, dass der Schock bei Hirschi darum besonders tief sass. Auch darum liess er es sich noch während der Tour de Suisse offen, ob er die Saison abbrechen würde. «Irgendwann wurde mir bewusst, dass ich für Gino etwas erreichen will. Darum fuhr ich weiter.»
Und tatsächlich: Hirschi versteckte sich nicht, sondern zeigte sich immer häufiger an der Spitze des Pelotons. Er wurde Schweizer Meister, gewann in Spanien, Italien und Luxemburg. Insgesamt sieben Siege hat Hirschi 2023 errungen – so viele wie in seinen ersten vier Profi-Jahren zusammen. «Darüber bin ich selbst überrascht. Ich habe das Gefühl des Gewinnens wieder gefunden – es ist wirklich cool, vorne mitzufahren.» Hirschi war der erfolgreichste Schweizer in diesem Jahr.
Nun werden Kritiker einwenden: Hirschi hat kein grosses Rennen gewonnen. Stimmt. Zumindest keines der World-Tour, also des obersten Rad-Regals. Nach Jahren voller Schwierigkeiten darf er trotzdem zufrieden sein. Mit den Erfolgen kamen Intuition und Rennintelligenz zurück – also jene Qualitäten, die Hirschi von den meisten im Feld unterscheiden. «Wenn es läuft, dann läufts», sagt er. So einfach kann auch Radsport sein.
Drei Gründe für den Aufwind
Doch warum lief es Hirschi so gut? Erstens: Er hat sich nach seinem Bruch des Handgelenks im Februar nicht verrückt machen lassen. Zweitens: Der gemeinsam mit dem Team UAE Emirates gefällte Entschluss, auf die grossen Rundfahrten zu verzichten, war richtig. Drittens: Hirschi hat nach seiner Hüftoperation im Dezember 2021 und einigen weiteren Verletzungen endlich keine Schmerzen mehr.
«Früher war fast immer etwas, stimmt», sagt er. «Nun mache ich täglich meine Übungen für die Hüfte und habe keinerlei Schmerzen – das macht einfach mehr Spass.» Dazu kommt, dass Hirschi eine noch kürzere Kurbel fährt als letztes Jahr, er hat das perfekte Material-Setup gefunden.
Pogacar steht ihm vor der Sonne
Dennoch sind seine Aussichten für 2024 nicht nur rosig. Denn: Hinter Superstar Tadej Pogacar (25, Slo) wächst im Team UAE Emirates nur wenig Gras. Kleinbei geben wird Hirschi dennoch nicht. Für die Frühjahresklassiker kündigt er jetzt schon an: «Ich will neben Tadej Co-Leader sein.» Man merkt: Hirschi hat definitiv Lust auf mehr bekommen.