Es gibt nur wenige Menschen, die Marc Hirschi (22) so gut kennen wie Pierino Rossi. Der 68-jährige gebürtige Tessiner trainierte den frischgebackenen Tour-de-France-Etappensieger in jungen Jahren. Genauer: zwischen 2011 und 2014.
«Dass er gross rauskommen würde, ahnte ich damals noch nicht», erzählt Rossi. Kein Wunder, Hirschi war in ihrem ersten gemeinsamen Jahr gerade einmal zwölf. Und dennoch: «Ich merkte schon, dass Marc ein besonderer Bursche war. Er war konditionell und technisch sehr stark, dazu fuhr er die Berge runter wie ein Verrückter.» Das hat sich bis heute nicht geändert.
Zum Glück. Hirschi zählt auch wegen seiner Steuerkünste und seinem Mut heute in Imola (It) zu den Medaillenanwärtern im WM-Strassenrennen. «Ich tippe Alaphilippe auf Gold, Ulissi auf Silber und Marc auf Bronze.»
Sollten der Franzose und der Italiener vor Hirschi über die Ziellinie fahren, würde sich der Berner trotzdem freuen. Oder? «Da bin ich mir nicht so sicher», wendet Rossi ein, «zumindest nicht nach dem Rennen. Denn Marc ist ein Siegfahrer. Eine gute Platzierung reicht ihm nicht.» Das sei schon als Junior so gewesen. «Ob auf dem Mountainbike, dem Quer-Velo, auf der Bahn oder Strasse – er wollte immer der Erste sein. Längst nicht alle ticken so.»
Duelle in der Langlauf-Loipe
Doch nicht nur auf zwei Rädern war Hirschi eine Kämpfernatur. Auch beim Langlauf-Training in Les Prés-d’Orvin, 15 Autominuten von Biel entfernt, verausgabte sich der Teenager. Rossi, der das Wintertraining organisierte, blickt zurück: «Zu Beginn war das wirklich lustig. Kaum hatte Marc seine Bindungen zugemacht, lag er schon auf dem Boden. Kein Wunder, Langlaufen war für ihn Neuland.»
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Letztlich hatte Hirschi aber auch die schmalen Latten rasch unter Kontrolle und lieferte sich mit Gino Mäder (23) – er ist ebenfalls Rad-Profi – heisse Duelle in der Loipe. Auf dem Velo glänzte Hirschi aber viel eher. «Ich erinnere mich an die Windschatten-Trainings unserer Sportgruppe. Marc war da der Einzige, der bei 65 km/h noch an meiner hinteren Stossstange klebte. Dafür brauchte es Mut, Vertrauen und technisches Können. Hätte ich auch nur einmal gebremst, wäre Marc ins Auto geflogen», so Rossi.
Dazu kam es nie – Rossi und Hirschi verstanden sich beinahe blind. «Marc war immer ein ruhiger, guter Typ. Auf dem Rad allerdings war er anders, voller Energie. Nur mitfahren reichte ihm nie, er wollte immer mehr», so Rossi.
«Hirschi hat dieses Talent»
Neben den technischen und physischen Qualitäten brachte «Flying Hirschi», so sein Spitzname, noch etwas anderes mit: Er konnte das Rennen und die Gegner lesen. «Marc war schon immer ein Fuchs. Dieses Talent hat man – oder eben nicht», so Rossi.
Ob diese Fähigkeiten ausreichen, um mit erst 22 Jahren WM-Gold zu gewinnen? Hirschi wäre der erste Schweizer Strassen-Weltmeister seit Oscar Camenzind im Jahr 1998. «Daran denke ich nicht», sagt Hirschi in seiner typischen Art. Er ist kein Lautsprecher und wird es wohl auch nie. Über Rossi sagt er aber gerne etwas: «Ohne ihn wäre ich nie dahin gekommen, wo ich heute bin.»