Start in Tokio ist trotz Corona in zwei Monaten
Japan hat Angst – macht Olympia so noch Sinn?

In zwei Monaten sollen in Tokio die Olympischen Spiele beginnen. Dabei tobt die Pandemie in Japan stärker denn je, Forscher und Experten raten von der Durchführung ab, das Volk hat Angst. Trotzdem sieht es aus, als ob die Spiele durchgeführt würden.
Publiziert: 01.06.2021 um 16:25 Uhr
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Aktualisiert: 01.06.2021 um 18:22 Uhr
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Wie viele Selfies mit olympischen Ringen werden diesen Sommer in Japan geschossen?
Foto: imago images/Kyodo News
Emanuel Gisi

Es ist die wahrscheinlich berühmteste Liebesgeschichte in der Historie der Olympischen Spiele. Sydney 2000, olympisches Dorf: Die Schweizer Ringer sorgen dafür, dass die Tennis-Sternchen Roger Federer und Miroslava Vavrinec vor der Tür der gemeinsamen Unterkunft ein paar ruhige Momente für sich bekommen. Der Rest ist bekannt: Die beiden Tennis-Talente verlieben sich, 21 Jahre später sind die Federers das ultimative Traumpaar, weit über die Schweiz und die Sportwelt hinaus.

Eine vergleichbare Geschichte wird es diesen Sommer nicht geben. Wenn am 23. Juli in Tokio mit einem Jahr Verspätung die Olympischen Sommerspiele eröffnet werden, geschieht dies unter strengsten Corona-Sicherheitsvorschriften. Die Sportler fliegen kurzfristig ein, werden isoliert, regelmässig getestet und reisen nach ihren Wettkämpfen so rasch wie möglich wieder ab. Der Mythos von den Spielen, welche die Völker verbinden und den das Internationale Olympische Komitee (IOC) so gerne pflegt, wird bloss in Spurenelementen zu finden sein. Wenn überhaupt.

«Da ist Wehmut dabei»: Petra Klingler verpasst die Eröffnungsfeier

«Es werden andere Spiele, als man es sich vorgestellt hat», sagt Petra Klingler (29). Die Sportkletterin war im August 2019 die erste Schweizer Athletin überhaupt, die sich für Tokio qualifizierte. Fast zwei Jahre später wartet sie immer noch auf ihre Olympia-Premiere. Und sie weiss, dass sie nicht das volle Erlebnis bekommt. «Eine Eröffnungsfeier werde ich zum Beispiel nicht erleben können», sagt sie.

Sie gibt zu: «Es ist ein bisschen Wehmut dabei. Ganz viele kleine Dinge, die eigentlich dazugehören, wird es diesmal nicht geben. Wenn ich die Geschichten aus dem olympischen Dorf höre, ist es schade, dass ich es nicht im selben Ausmass erleben kann. Die Tausenden von Athleten, die aus unterschiedlichen Ländern zusammenkommen, das ist einmalig.»

Klingler relativiert aber auch. «Ich bin aber vor allem froh, dass die Spiele überhaupt stattfinden. Für uns Sportler ist das sehr wichtig und auch ein positives Signal, dass es weitergeht.» Ralph Stöckli, Chef de Mission bei Swiss Olympic, sagt es so: «Für die Athletinnen und Athleten sind Olympische Spiele der wichtigste Anlass in ihrer Laufbahn, mit einem entsprechend grossen Einfluss auf ihre Karriere. Für viele von ihnen stellen die Spiele sogar ein einmaliges Erlebnis dar.»

Bei Swiss Olympic zeigt man sich mit Blick auf den 23. Juli optimistisch. «Unser Eindruck ist: Die Organisatoren und das Internationale Olympische Komitee stehen aktuell noch vor verschiedenen Herausforderungen», so Stöckli. «Diese gehen sie mit viel Engagement und Know-how an – sodass die Olympischen Spiele im Sommer für alle Beteiligten sicher und unter den speziellen Umständen so positiv wie möglich stattfinden können.»

Mujinga Kambundji geht davon aus, dass die Spiele stattfinden

Die Schweizer Rekord-Sprinterin Mujinga Kambundji (28) lässt sich gar nicht erst auf das Thema ein: «Solange die Spiele nicht abgesagt sind, gehe ich davon aus, dass sie ausgetragen werden.» Spitzensportlerinnen wie ihr oder Klingler bleibt nichts anderes übrig. «Mich damit auseinanderzusetzen, dass sie nicht stattfinden könnten, bringt mir nichts.»

Die grosse Frage muss anderswo beantwortet werden: Werden die Olympischen Spiele wirklich stattfinden? Es sieht im Moment danach aus. Obwohl das in Japan kaum jemand zu wollen scheint. Jüngste Umfragen zeigen, dass zwischen 60 und 90 Prozent der japanischen Bevölkerung dafür sind, Olympia entweder noch einmal zu verschieben oder ganz abzusagen. «Die Menschen haben Angst», sagt der Schweizer Journalist Gabriel Knupfer, der in Yokohama lebt. «Alle hoffen, dass die Spiele abgesagt werden. Dabei waren die Japaner in der Mehrzahl ursprünglich sehr olympiafreundlich.»

Notstand wurde bis 20. Juni verlängert

Der Grund für die Ablehnung liegt auf der Hand: Die Corona-Fallzahlen in Tokio und in anderen Präfekturen steigen seit ein paar Wochen wieder massiv an, der Notstand in einem Teil des Landes, unter anderem in Tokio, wurde am Freitag bis zum 20. Juni verlängert. Die USA erliessen Anfang Woche eine Reisewarnung für Japan. Beim Impf-Fortschritt ist das Land längst ins Hintertreffen geraten. Bis Freitag waren bloss 2,43 Prozent der Bevölkerung geimpft. «Die Strategie, welche die japanische Regierung gegen Corona gefahren ist, basierte nicht auf Impfungen, sondern auf Abschottung», sagt Knupfer. Abschottung? Geht bei Olympischen Spielen nicht. Auch wenn keine ausländischen Fans ins Land gelassen werden, fliegen für die zwei Wochen immer noch rund 90’000 Athleten, Betreuer, Berichterstatter und Funktionäre aus aller Herren Länder ein. Nicht auszumalen, wenn sich das Virus hier noch einmal schneller verbreiten würde, sich womöglich gar eine neue Variante herausbilden könnte.

Um wenigstens die verwundbarsten Japaner zu schützen, wurde eine Offensive gestartet, dank der bis Ende Juli alle Über-65-Jährigen geimpft sein sollen. Davon gibt es viele: Japan ist das älteste Land der Welt, höher als hier ist der Altersmedian (48,6 Jahre) weltweit einzig im Stadtstaat Monaco. 28 Prozent der japanischen Bevölkerung sind über 65 Jahre alt, nirgends ist dieser Anteil höher.

Aus der Traum von den Touristen-Millionen

Die Agentur AFP berichtete diese Woche, dass die Absage der Spiele Japan laut Berechnungen von Ökonomen rund 16,6 Milliarden US-Dollar kosten würde. Das Problem: «Das Land könnte aber noch grösseren wirtschaftlichen Schaden erleiden, falls die Durchführung der Spiele zu stark ansteigenden Infektionszahlen und einem neuerlichen Notstand führt.»

Von einem positiven Effekt spricht im Zusammenhang mit Olympia schon lange niemand mehr. Als sie die Spiele nach Tokio holten, träumten die Japaner von 40 Millionen internationalen Touristen, die 2020 ins Land strömen sollten, 300 Milliarden Dollar sollten in die Kassen gespült werden. Daraus wird nun nichts. Jetzt geht es längst nur noch um Schadensbegrenzung.

Nur das IOC kann die Olympischen Spiele absagen

Warum aber sagt die japanische Regierung die Spiele nicht einfach ab? Die Antwort ist simpel: Sie darf nicht. Vertraglich ist die Sache eindeutig geregelt, absagen kann nur das IOC. Und das scheint daran nun mal gar kein Interesse zu haben. Dafür gibt es 5,16 Milliarden Gründe: So viele US-Dollar nahm das Internationale Olympische Komitee im letzten Olympiazyklus mit TV- und Sponsorendeals ein. Die Nationalen Olympischen Komitees und Sportverbände erhalten einen grossen Teil davon ausgeschüttet. Davon profitiert am Schluss der Sport – und viele Verbände sind darauf angewiesen. Ein IOC-Sprecher sagte es letzte Woche deutlich: «Wir hören natürlich zu, aber wir lassen uns nicht von der öffentlichen Meinung lenken. Die Planung für die Spiele kann und wird weitergehen.»

IOC-Präsident Thomas Bach erklärte gleichzeitig, 75 Prozent der Teilnehmer seien bereits geimpft, bis zum Start der Spiele rechne man mit 80 Prozent geimpften Sportlern und Betreuern. «Es ist klarer denn je, dass diese Spiele für alle Teilnehmer und für das japanische Volk sicher sein werden», sagt IOC-Vizepräsident John Coates. Man habe in den letzten Monaten bereits Beispiele von Hunderten von sicheren Wettkämpfen mit Tausenden Athleten erlebt, heisst es beim IOC. Dass es an einer Reihe von grösseren Anlässen wie der Hallen-EM in der Leichathletik oder der Handball-WM zu Problemen gekommen ist, scheint niemanden zu erschüttern. Auf die Nachfrage von SonntagsBlick, warum eine erneute Verschiebung keine Option ist, wird bei der Pressestelle nicht eingegangen.

Forscher vom «New England Journal of Medicine» verreissen die IOC-Pläne

Aber wenn die Spiele angeblich so sicher sind: Wer bringt das den Japanern bei? Und sollte man in einem Land einen Grossanlass durchführen, wo man so offensichtlich nicht willkommen ist? Die grosse Zeitung «Asahi Shimbun», ein Olympia-Partner, sprach sich diese Woche offen gegen die Durchführung der Spiele aus. Davor hatte die Ärztevereinigung bereits darauf hingewiesen, dass Olympische Spiele in der aktuellen Situation nicht zu verantworten seien. Der milliardenschwere Softbank-CEO Masayoshi Son, einer der reichsten Männer im Land, forderte auf Twitter wütend die Absage oder Verschiebung. Er fragte: «Mit welcher Autorität wird das durchgesetzt?»

Auch im renommierten «New England Journal of Medicine» verreissen fünf US-Forscher die Pläne des IOC richtiggehend. «Die Vorgaben des IOC beruhen nicht auf einer wissenschaftlich strengen Risikobewertung», schreiben sie. Ausserdem habe das IOC «die Lehren aus anderen grossen Sportereignissen nicht beherzigt». Die NFL, die NBA und andere Profi-Ligen etwa hätten mit viel strengeren Protokollen gearbeitet. Am Ende sei «eine Absage die sicherste Option». Im Minimum müssten aber die Sicherheitsmassnahmen viel strenger werden.

Dass die japanische Regierung noch etwas unternehme, um das IOC zu stoppen, daran glaube praktisch niemand mehr, sagt Journalist Knupfer. «Es braucht einen Knall», sagt er. «Wenn die Amerikaner nun sagen würden, sie kämen nicht – das würde noch einmal Bewegung in die Sache bringen.» Aber danach sieht es nicht aus. Und so drohen die traurigsten Olympischen Spiele seit 1936: In höchstens halb gefüllten Stadien, in einem Land, das derzeit am liebsten in Ruhe gelassen werden möchte. Wobei: Ruhe wird herrschen. Im Moment ist gemäss den Corona-Bestimmungen in Tokio nicht einmal jubeln erlaubt. Lautes Schreien ist gemäss den Behörden zu riskant.

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