Es gibt etwas, darin ist Jason Joseph extrem gut: Seine Mutter Susan erschrecken. Dann lauert er hinter einer Ecke oder einer Türe und springt mit grossem Geschrei heraus. Und weil Joseph mit seinen 22 Jahren Teil einer Generation ist, die das Handy in jeder Lebenssituation parat hat, gibt es davon mittlerweile unzählige Filme.
Es gibt noch etwas, in dem Jason Joseph extrem gut ist: Hürdensprint. Schweizer Rekordhalter ist er über 110 m Hürden schon, der nationalen Konkurrenz ist er längst enteilt. Darum hat der Baselbieter jetzt Grösseres vor: Er will die Welt erobern. «Er ist ein Riesentalent, hat ein unglaubliches Potenzial», sagt seine Trainerin Claudine Müller und spricht aus, was in der Schweizer Leichtathletik-Szene alle wissen. «Athletisch, aber auch mental.» Und er traut sich etwas. «Ich will Olympia-Gold», sagt Joseph. Noch nicht heute, noch nicht am Dienstag in Tokio, da wäre er mit einer Finalqualifikation zufrieden. Aber morgen, irgendwann in der Zukunft, soll es soweit sein, in Paris 2024 oder spätestens in Los Angeles 2028.
Das ist natürlich leicht gesagt. Aber wer sich ein paar Minuten mit dem Baselbieter hinsetzt und zuhört, merkt rasch: Hinter der lockeren und lustigen Persönlichkeit, die so wirkt, als ob sie nichts aus der Ruhe bringen könnte, steckt ein zielstrebiger Athlet. Joseph ist kein Träumer, der einfach etwas erzählt. So wie er auf der Bahn unaufhaltsam über eine Hürde nach der anderen rauscht, ist er einer, der alles dafür tun wird, sein Ziel zu erreichen.
«Ich meine, wer sonst geht für drei Monate in die USA und schaut sich nicht einmal eine Stadt an?», fragt William Reais, 200-m-Europameister der U23-Kategorie und Josephs bester Freund. Im Winter bekam Joseph die Chance, sich für ein paar Wochen der Trainingsgruppe von US-Sprintguru Rana Reider anzuschliessen. Er ging nach Florida – und kehrte erst einmal nicht mehr zurück. «Ich habe schnell gemerkt, dass das nicht reicht», sagt er. «In zwei oder drei Wochen kannst du nichts gross verändern. Da hatte meine Mutter recht. Wieder einmal.»
Joseph hört aufs Mami
Womit wir wieder bei Susan Gross wären. Josephs Mutter ist nämlich nicht nur etwas schreckhaft, sondern vor allem: Seine wichtigste Ratgeberin. «Sie hat ein unschlagbares Gespür für mich», sagt Joseph. «Sie war nie Profisportlerin, kam vorher nie in Berührung mit Leichtathletik. Und doch weiss sie, was für mich das Beste ist. Bei mir dauert es manchmal eine Weile, bis ich es sehe. Und dann merke ich, dass mir das schon jemand gesagt hat.» Die Mutter hatte ihm von Anfang an gesagt: Entweder du gehst für ein paar Monate, oder es lohnt sich nicht.
Jason Josephs Karriere ist eine Familienangelegenheit. Mutter Susan, gebürtige Ostschweizerin, ist für Administration und Medienarbeit zuständig, der aus dem karibischen St. Lucia stammende Vater Zephirin ist als Masseur involviert. «Er hat mir viel beigebracht. Dass ich die Menschen nicht unterschätzen soll, zum Beispiel», sagt Joseph. «Dass jeder Mensch etwas mitbringt, wofür es ihm zuzuhören lohnt.
Und er hat mir gesagt: ‹Am Ende des Tages interessiert es deine Gegner nicht, wie viel du gelitten hast. Du weisst auch nicht, was deine Konkurrenz macht. Darum immer noch eine Serie, eine Übung, eine Wiederholung mehr.›» Vielleicht bringt das Jason Josephs Persönlichkeit ganz gut auf den Punkt. Ein respektvollerer Zuhörer als der 1,93-m-Mann aus Oberwil BL ist schwierig zu finden. Ein härterer Arbeiter ebenfalls.
Aber die Familie hört da nicht auf. William Reais mag mit den Josephs nicht blutsverwandt sein. Für Mutter Susan ist er trotzdem «wie ein zweiter Sohn.» Wenn Susan Gross über Trainerin Claudine Müller spricht, klingt das, als ob es um ein Familienmitglied geht.
Später Durchbruch
Müller hatte viel zu tun in den letzten Monaten. Denn diesen Sommer hat das Familienunternehmen Joseph plötzlich Gegenwind bekommen. Nach der Rückkehr aus dem Camp von Reider läuft es überhaupt nicht, die Zeiten zum Saisonstart sind für Josephs Verhältnisse mies. «Er war körperlich sehr fit», sagt Müller. «Er hatte viel Kraft und das Gefühl, er sei ready.» Doch er bringt es nicht auf die Bahn, die 13,29 Sekunden, die er letzten Sommer lief, sind lange weit weg. «Wir haben ein bisschen Zeit gebraucht.»
Der Knopf löst sich erst spät, an den Schweizermeisterschaften Ende Juni macht Joseph die Olympia-Qualifikation klar. «Claudine hat eine Riesenarbeit geleistet», sagt Gross. Das wird in Zukunft die Herausforderung sein: Das Familienunternehmen mit den Einflüssen von aussen kompatibel zu machen.
Denn irgendwann, das ist der Plan, will Jason Joseph unvermittelt auftauchen, allen davonlaufen und den Rest der Leichtathletik-Welt erschrecken. Darin ist er bekanntlich extrem gut.
Die 32. Olympischen Sommerspiele finden vom 23. Juli bis 8. August 2021 in der japanischen Hauptstadt Tokio statt. Alle Infos zur Eröffnung, Übertragung, Wettkampfterminen, Disziplinen, Neuerungen, Austragungsstätten und Maskottchen erfahren Sie in der grossen Übersicht.
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