Plötzlich geht das Licht über dem Stade de France aus. Fast gleichzeitig gehen Zehntausende von kleinen Lichtchen auf den Rängen an, die das Stadion in ein pinklila Wunderland verwandeln. Ein Spot richtet sich auf einen DJ mit dunkler Brille und Kopfhörer, die elektrischen Klänge, die er am Mischpult regelt, schneiden die Luft. Hier wird etwas Grosses angekündigt.
Es ist Sonntagabend, um 21.50 Uhr steht der Kampf der Männer um die Medaillen über 100 Meter an. Das grösste Spektakel, das bei Olympia jeweils geboten wird. Über 70'000 Zuschauer schauen gebannt, was auf sie zukommen mag. Die acht schnellsten Männer der Welt werden einzeln ins Stadion gerufen. Keiner im Stadion weiss in diesem Moment, dass hier gleich Geschichte geschrieben würde.
In Jamaika werden die Menschen unruhig
Die Jamaikaner Kishane Thompson (23) und Oblique Seville (23) haben im Halbfinal beide einen bärenstarken Eindruck gemacht. Sie wollen die Durststrecke der Reggae-Boys beenden und endlich aus dem Schatten von Usain Bolt treten, der in Peking 2008, in London 2012 und in Rio 2016 den Hunderter spielend dominierte. In Jamaika werden die sprintverwöhnten Menschen langsam unruhig.
Thompson ist dieses Jahr wie eine Rakete in die Weltspitze geschossen. Im Juni bei den jamaikanischen Trials zauberte er plötzlich 9,82 auf die Bahn, im Final gar 9,77, die neuntschnellste Zeit der Geschichte. Plötzlich war Thompson der Favorit auf Olympiagold und machte Weltmeister Noah Lyles mächtig nervös. «Icon», Ikone, hat sich Lyles auf seine linken Bauchmuskeln tätowieren lassen. An Selbstvertrauen mangelt es dem 27-jährigen US-Sprinter nicht.
Als er ins Stadion gerufen wird, läuft er nicht hinein wie die anderen und winkt ins Rund, er springt hinein und herum, wie ein wildes, adrenalingeladenes Pferd, das nicht im Zaum gehalten werden kann. Seine vielen Fans drehen die Lautstärke im Stadion in den Rotbereich.
Psychospielchen während der Halbfinals
Das Duell der schnellen Männer beginnt nicht erst jetzt. Es war bereits in den Halbfinals in vollem Gange. Da will jeder den Anschein machen, dass es ein Kinderspiel ist, sich für den Final zu qualifizieren. Als sich Noah Lyles und Oblique Seville im ersten von drei Läufen direkt duellieren, schaut der Jamaikaner weit vor dem Ziel bereits herausfordernd nach links zu Lyles und richtet sich auf den letzten Metern auf, lässt scheinbar locker austrudeln. Trotzdem läuft er eine persönliche Bestzeit von 9,81. Welch Kampfansage!
Doch jetzt im Final zählt nichts mehr, was war, nur noch der Moment. Lyles tigert unruhig vor seinem Startblock umher. Vier Schritte nach vorn, vier Schritte nach hinten, vier Schritte nach vorn, vier nach hinten. Kishane Thompson stützt die Arme in die Hüfte, bleibt ganz ruhig. Die dramatische Musik nervt, die durchs Stadion rollt. Sie wäre überhaupt nicht nötig, die Spannung wäre auch ohne sie riesig. Endlich wird es still. Ganz still, nur wer gute Ohren hat, hört das leise Knattern der Helikopter, welche seit Stunden weit über dem Stadion kreisen.
Die Finalisten werden zu den Startblöcken gerufen. Lyles geht einen Meter über die Linie hinaus, springt aus dem Stand geschätzte eineinhalb Meter in die Höhe, zieht blitzschnell die Knie an die Brust. Und man fragt sich, ob so etwas nicht unnötig Energie verbraucht, die er gleich bis zum letzten Tropfen benötigen wird. In einem Rennen, in dem man hellwach und blitzschnell reagieren, vom ersten Augenblick an alles richtig machen muss, sich nicht den winzigsten Fehler erlauben, keinen Sekundenbruchteil zögern darf und alles reinlegen muss, was in diesen muskelbepackte Traumkörpern steckt.
Als es endlich still wird
Die Stille dauert ein paar Sekunden, sie kommen jedem im Stadion vor wie absichtlich langgezogen vor, um die Spannung, die kaum auszuhalten ist, noch zu verstärken. Jetzt sind alle in Position, acht Raubkatzen bereit zum Sprung. Der Startschuss löst eine Explosion aus, die Läufer schiessen los, die Zuschauer springen auf, schreien, versuchen sich in Blitzgeschwindigkeit einen Überblick zu verschaffen. 40 Meter, Lyles scheint weit hinten, Thompson mit seinen raumgreifenden Schritten vorn. Doch es geht zu schnell, um das auf der Tribüne zu realisieren. Praktisch gleichauf werfen sich die Läufer mit 43 Stundenkilometern kopfvoran ins Ziel. Die letzte Bewegung, das Vorschleudern des Kopfes, könnte entscheidend sein.
Der Jubel im Stadion weicht einem Raunen. Läufer und Fans schauen gebannt auf die Anzeigetafel. Da steht hinter sieben der acht Namen das Wort «Photo», der Einlauf muss mit modernster Technik überprüft werden, so knapp war der Ausgang. Klar ist in diesem Moment nur, dass Oblique Seville mit 9,91 Letzter geworden ist. Der Jamaikaner hat seine Halbfinal-Performance nicht wiederholen können. Lyles legt die Hände hinter den Kopf, geht zu Thompson und sagt: «Du hast es geschafft.» Er glaubt, er habe verloren. Thompson lächelt angespannt. Wieder sind die Sekunden ewig lang.
Lyles gratuliert Thompson zum Sieg
Dann wird das Resultat eingeblendet. Lyles, fast ungläubig, sieht seinen Namen zu oberst erscheinen und die Zeit: 9,79. Doch die steht auch bei Thompson. Der Stadionsprecher erklärt, dass der Amerikaner um fünf Tausendstel schneller gewesen sei – 9,784 gegen 9,789. Das ist nicht einmal ein Wimpernschlag, keine Nasenspitze, bloss ein Hauch von Nichts. Und doch bedeutet dieser die Welt. Lyles ist Olympiasieger, kann nun jede der fünf Tausendstel vergolden. Thompson und ganz Jamaika müssen weiter warten und sich die Läufe von Usain Bolt auf Youtube anschauen, wollen sie Jamaika in der Königsdisziplin bei Olympia siegen sehen.
Paris hat alles geboten, was man sich als Zuschauer wünschen kann. Dieser Lauf ist jetzt schon legendär. Die ersten zwei Läufer innerhalb von fünf Tausendstel, die ersten vier Läufer innerhalb von vier Hundertstel, und alle acht innerhalb von zwölf Hundertstel. Die Zeit in ihrer dramatischsten Bedeutung und Auswirkung. Während Lyles mit der US-Fahne auf die Ehrenrunde geht, stürmen viele Zuschauer bereits aus dem Stadion Richtung Zug und Metro. Das Gedränge ist riesig. Doch jede Mühe hat sich gelohnt. Keiner kann sich der Faszination des 100-Meter-Laufs entziehen.
Auch nicht die, welche noch die Worte des gefallenen Sprinthelden Ben Johnson im Hinterkopf abgespeichert haben, dessen Olympiasieg 1988 nach zwei Tagen und einem positiven Dopingtest gestrichen wurde. Der heute 62-Jährige sagte nach Bekanntwerden des Skandals, dass kein Mensch auf der Welt sauber 9,80 laufen könne. Johnson siegte damals in 9,79, derselben Zeit, wie sie Lyles und Thompson am Sonntag gelaufen sind. Aber Johnson sagte vor dem Paris-Rennen auch voraus, dass Lyles es nicht aufs Podest schaffen werde.