Dominator an WM und Weltcup
Deshalb strahlt Marco Odermatt über den Sport hinaus

Marco Odermatt ist der grösste Sportstar der Schweiz – und Nachfolger von Roger Federer. Seine Beliebtheit hat nur zum Teil mit seiner sportlichen Dominanz zu tun. Wegbegleiter, Historiker und Zuschauer suchen nach Gründen für die Odimania.
Publiziert: 18.02.2023 um 16:42 Uhr
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Aktualisiert: 18.03.2023 um 17:54 Uhr
Er überstrahlt alle: Doppelweltmeister Marco Odermatt.
Foto: Gian Paul Lozza/13PHOTO
Benno Tuchschmid
Benno TuchschmidCo-Ressortleiter Gesellschaft

Marco Odermatt (25) steht auf einer Bartheke in einem Open-Air-Klub mit dem Namen La Folie Douce und trägt einen roten Ganzkörperanzug. Aus den Boxen dröhnt Partymusik von David Guetta (55). Er hebt die rechte Hand im Takt und singt mit: «I'm good, yeah, I'm feelin' alright / Baby, I'ma have the best fuckin' night of my life.»

Nach der Abfahrt geht Odermatt auch im Après-Ski steil
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Ausgelassene Gold-Party:Nach der Abfahrt geht Odermatt auch im Après-Ski steil

Rückblick: Odermatt ist in Courchevel-Méribel gerade Weltmeister in der Königsdisziplin des Ski alpin geworden. Es wartet ein Abend, gefüllt mit Medaillenvergabe, Interviews und anderen Verpflichtungen. Aber jetzt ist erst mal Après-Ski. Mit Sonnenbrille im Gesicht und Fischerhut auf dem Kopf. Die Moderatoren des SRF glucksen vor Freude, als die Handyaufnahmen des feiernden Weltmeisters später zur Primetime gesendet werden. Typisch Odi, sagen sie. Typisch Odi, sagen alle, die ihn länger begleiten. Wenn es was zu feiern gibt, feiert er.

Marco Odermatt (rechts) mit Manager Michael Schiendorfer.
Foto: Sven Thomann
Die Sau rauslassen mit dem Örgeli: Odermatt ist bekannt fürs Feiern.
Foto: Sven Thomann

Vielleicht erklärt diese Episode ziemlich gut, wieso Marco Odermatt gerade dabei ist, im Land die Lücke zu füllen, die Roger Federer hinterlassen hat: jene des grössten aktiven Sportstars des Landes. Odi holt viele ab. Stadt und Land, Jung und Alt, links und rechts. Wie Federer. Einfach in der etwas urchigeren Version. King Roger auf Kafi Schnaps.

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«Wenn Odi gesund bleibt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis er Pirmin Zurbriggens Rekord von 40 Siegen und vier Gesamtweltcupsiegen bricht»
Blick-Ski-Experte Marcel W. Perren
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Wann der Hype genau begonnen hat, ist auch für sein Umfeld schwierig zu sagen. Da waren fünf Goldmedaillen an der Junioren WM in Davos 2018, da war Marcel Hirscher, der österreichische Champion, der sagte, Odi könne mal alles gewinnen. Und dann begann er alles zu gewinnen: Olympiagold, Gesamtweltcup. In den letzten zehn Tagen nun auch noch WM-Gold in der Abfahrt und im Riesenslalom. Blick-Ski-Experte Marcel W. Perren begleitet den Weltcup seit 24 Jahren. Er sagt: «Wenn Odi gesund bleibt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis er Pirmin Zurbriggens Rekord von 40 Siegen und 4 Gesamtweltcupsiegen bricht.» Dann wäre er auch gemäss Statistik der grösste Schweizer Skirennfahrer aller Zeiten.

Das sind die sportlichen Tatsachen. Aber um so beliebt zu werden, wie es Odermatt ist, reicht Skifahren nicht.

Wieso strahlt Odermatt über den Sport hinaus? Was macht ihn zum Liebling der Nation? Wir haben mit seinem Manager, dem langjährigen Blick-Ski-Experten und einem Sporthistoriker darüber gesprochen, aber auch mit einem Vertreter der Sofa-Experten-Fraktion. Mit ihnen versuchen wir herauszufinden, was das Phänomen Odi ausmacht. Und vielleicht auch ein wenig, was das über die Schweiz aussagt, obwohl es natürlich vermessen wäre, ein Land anhand seines Sportlieblings abschliessend ergründen zu wollen.

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«Die Leute haben ein gutes Gespür. Sie merken, dass Marco zu 100 % authentisch ist. Nichts ist aufgesetzt bei ihm. Alles echt. Das ist sehr, sehr aussergewöhnlich»
Michael Schiendorfer, Manager von Marco Odermatt
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Michael Schiendorfer (55) macht als Erstes Duzis am Telefon. Seit sieben Jahren ist er Manager von Odermatt – und begleitet ihn an viele Weltcuprennen. Schiendorfer war Kommunikationschef bei grossen Schweizer Firmen. Heute betreut er zehn Sportler, zu ihnen gehören Schwingerkönig Joel Wicki (25) und Simon Ehammer (23), Vize-Europameister im Zehnkampf. Schiendorfer ist der Mann hinter der Marke Odermatt. Wieso ist dieser so beliebt? «Die Leute haben ein gutes Gespür. Sie merken, dass Marco zu 100 Prozent authentisch ist. Nichts ist aufgesetzt bei ihm. Alles echt. Das ist sehr, sehr aussergewöhnlich.»

Odermatt war 18, als Schiendorfer sich um ihn zu bemühen begann – als Manager fast ohne Erfahrung im Sportbereich. Schiendorfer telefonierte mit Vater Walti, dieser lud ihn nach Hause an den Küchentisch ein in Buochs NW. «Marco stellte mir viele gute Fragen. Er wollte wissen, was mir im Leben wichtig sei. Woher ich komme. Was ich bei den grossen Firmen gelernt habe. Wieso ich mir den Job als sein Manager zutraue.» Odermatt war da noch Gymnasiast an der Schweizerischen Sportmittelschule Engelberg, die er einige Monate später mit der drittbesten Matura seines Jahrgangs abschloss.

Der kleine Odi am Start in Kitzbühel.
Foto: Zvg
Beim ersten Skitag als Zweijähriger auf der Klewenalp.

Die Philosophie des Teams Odermatt sei eine Mischung aus konservativ und mutig sein, sagt Schiendorfer. Auf Stöckli-Ski fährt er seit mehr als zwölf Jahren. Der Servicemann Chris Lödler ist ebenfalls seit sieben Jahren dabei. Alles ist wohlorganisiert. Der SRF-Dok «Marco Odermatt – vom Lausbuben zum Superstar» (334'000 Zuschauer) zeigt, wie Vater Walti minutiös Buch über die Anzahl der Schneetage seines Sohnes führt – seit Marco zweieinhalb Jahre alt ist. Walti ist Ingenieur von Beruf und sehr akribisch. Aber ohne verbissen zu sein. Schiendorfer sagt: «Für mich war es entscheidend zu spüren, dass bei Marco nicht die Eltern pushen, sondern er selber.»

Odermatt habe einen unheimlichen Fokus. Trainiere im Sommer eisern. Geht Rennen mit höchster Konzentration an. Kaum ist er im Zielraum, könne er den Schalter umlegen wie kaum ein anderer. Dann will er geniessen. Deshalb komme es zu solchen Szenen wie im La Folie Douce. Blick-Ski-Experte Perren meint: «Marco sagt immer, ein Sieg muss sofort gefeiert werden, weil du diese Emotionen nicht konservieren kannst.»

Odermatts Feierfreudigkeit ist legendär und führt schon mal dazu, dass sein Zimmerkollege Daniel Yule (29) beim Weltcup-Final 2018 nicht schlafen kann, weil er den Grossteil der Nacht auf der Toilette verbringt.

Aber auch in schwierigen Situation bleibt er locker. Zwei Tage nachdem er an der WM beim Super-G als grosser Favorit, um elf Hundertstel, eine Medaille verpasst hatte, stand ein Event für Sponsoren und Fans an. Andere hätten den Pflichttermin gehasst. Odermatt nahm für die Strecke von seinem Hotel zum Eventlokal einen roten Kinderskibob – und traf gut gelaunt ein.

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«Ich bin in erster Linie einfach froh, dass sich dank Odermatt zwei Stunden Skirennen nicht wie Zeitverschwendung anfühlen, sondern als ‹mir händ gunne!›»
Satiriker und TV-Sportfanatiker Renato Kaiser
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Dank harter Arbeit grossen Erfolg haben – und dann aber auch mal chli gnüsse und die Sau rauslassen. Darin würden sich viele Deutschschweizer zu erkennen glauben, sagt Satiriker und TV-Sportfanatiker Renato Kaiser (37). Nur zögerlich äussert er seine Gedanken zum Phänomen Odi, weil es etwas Versnobtes habe, wenn man versuche Sportbegeisterung intellektuell zu analysieren: «Ich bin in erster Linie einfach froh, dass sich dank Odermatt zwei Stunden Skirennen nicht wie Zeitverschwendung anfühlen, sondern als ‹mir händ gunne!›.»

Kaisers Bezug zum Skisport ähnelt jenem vieler Schweizer. Es sei wie mit dem Katholizismus, «da wirst du hineingeboren». Er wuchs in einer Familie auf, in der die Fernsehzeit stark eingeschränkt war, mit einer Ausnahme: Skirennen. «Das war der einzige Moment, wo man sogar in der Stube essen durfte.»

Als er zu schauen begann, siegten anfangs noch Vreni Schneider (58) und Michael von Grünigen (53). Dann lange Zeit vor allem Österreicher. Aufgehört, Skirennen zu schauen, habe er trotzdem nie.

Kaiser glaubt, dass Marco Odermatts Herkunft eine entscheidende Rolle spiele bei seinem Aufstieg zum Ski-Federer. «Für Deutschschweizer ist dieses Nidwaldnerische genau die richtige Prise Exotik. Wäre Odi aus dem Tessin oder der Romandie, wäre er wohl nicht ein derartiger Star geworden.» Und tatsächlich läuft derzeit ein Werbespot des Telekomanbieters Sunrise rauf und runter, der wirkt, als habe der Texter versucht, möglichst oft das Wort «bruicht» einzubauen.

Mit dieser Art der Begeisterung hat Kaiser manchmal Mühe. Die ganze zur Schau gestellte Deutschschweizer Selbstzufriedenheit, die sich mit dem Erfolg Odermatts breitmache, berühre ihn oft peinlich. «Wenn man SRF-Sportstudios in Raclette-Stübli verwandelt, wird es mir leicht unwohl.» Aber auch in ihm nähre der Skisport «den kleinen Patrioten». Er sei ruhig beim Zuschauen. Aber er balle bei der Zieleinfahrt die Faust, wenn «wir gewonnen haben». Während alle rundherum durchdrehen, bleibe Odermatt gefasst. «Überlegen, aber sympathisch, so mögen wir das. Wie Federer macht er einfach nichts falsch – und wirkt dabei nicht mal angestrengt.»

«Vielleicht schon etwas überalkoholisiert»
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Weltmeister Odermatt bei SRF:«Vielleicht schon etwas überalkoholisiert»
Der Kult um Skirennfahrerinnen und Skirennfahrer hat in der Schweiz Tradition. Und gründet auch auf der Überhöhung als Skination, sagt Simon Engel (32), Sporthistoriker bei Swiss Sports History. 35 Prozent aller Schweizerinnen und Schweizer gehen regelmässig auf die Piste. Wandern, Velo fahren und Schwimmen tun mehr. Unter den 25 meistgeschauten SRF-Sendungen seit 2013 gibt es kein einziges Skirennen – dafür 21 Fussballspiele, davon 17 Matchs der Nati. Das erste Skirennen folgt auf Platz 28, der erste Schlussgang eines Schwingfests übrigens auf Rang 37.
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«Die Medaillen von Primin Zurbriggen und Maria Walliser 1987 in Crans-Montana steigerten das Gefühl, eine wirklich grosse Skination zu sein»
Simon Engel, Sporthistoriker bei Swiss Sports History
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Aber über Granit Xhaka (30) streitet die Schweiz. Über Marco Odermatt nicht.

Der erste männliche Ski-Superstar der Schweiz war der Berner Oberländer Karl Molitor (1920–2014). Er gewann zwei Medaillen an den Olympischen Winterspielen in St. Moritz GR 1948, elf Mal die Lauberhorn-Abfahrt – und wurde landesweit bekannt als heldenhafter Draufgänger, der die Tugenden der Schweiz in die Welt trug. Molitor war auch in den USA unterwegs, als Aushängeschild des Schweizer Tourismus, um «das klassische Skiland im Herzen Europas in Erinnerung zu rufen», wie eine Schweizer Zeitschrift 1947 schrieb. Diese Grundmischung macht Ski alpin in der Schweiz bis heute aus, sagt Engel: Sport, Kommerz und Tourismus. «Die goldenen Tage von Sapporo 1972 machten Bernhard Russi zum ewigen Star. Die Medaillen von Pirmin Zurbriggen und Maria Walliser 1987 in Crans-Montana steigerten das Gefühl, eine wirklich grosse Skination zu sein.»

In Crans-Montana festigte sich das Selbstbild der Schweiz als Ski-Supermacht.
Foto: Keystone
Karl Molitor war der erste männliche Schweizer Ski-Star.
Foto: keystone-sda.ch

Im Gleichschritt mit dem Erfolg und der Professionalisierung des Sports stiegen die Budgets, die durch die Werbeindustrie in den Skirennsport gepumpt wurden. Ein Star wie Odermatt verdient mittlerweile siebenstellig. Ums Finanzielle gehe es aber nie in erster Linie, sagt Manager Schiendorfer, sondern um Nachhaltigkeit. Finanzielle Nachhaltigkeit. Beim japanischen Winterbekleidungs-Hersteller Descente lanciert er eine eigene Kollektion mit Umsatzbeteiligung, dasselbe gilt für den Helm, die Skibrille und das Odi-Fondue. Odi verdient an Odi. Mittlerweile ist er als Athlet beim österreichischen Energiegetränkehersteller Red Bull unter Vertrag. Es ist die höchste Stufe, die ein Skirennfahrer im Sponsoring erreichen kann. Nicht unbedingt finanziell, aber vom Netzwerk und von den Möglichkeiten her. Red Bull stellt seinen Fahrern während des Weltcups auch mal einen Privatjet zur Verfügung. Und sie haben Zugang zu topmodernen Trainingszentren. Odermatt hat nun auch regelmässig Auftritte im Nachbarland. Im ORF drehen die Kommentatoren bei Fahrten von Odi regelmässig durch.

Doch Schiendorfer achtet genau darauf, dass Odermatt in erster Linie Sportler bleibt – und Sponsoren- und Medienevents an sogenannten «Power-Tagen» geballt abgewickelt werden. Zu viele Beispiele von Skirennfahrern gibt es, die ob all den Verpflichtungen irgendwann die Freude verloren. Der legendäre US-Journalist Hunter S. Thompson (1937–2005) beschrieb schon 1970, wie der französische Ausnahmeskifahrer Jean-Claude Killy (79) nach seinem Rücktritt in den USA als wandelnde Litfasssäule von einem Event zum nächsten gekarrt wurde.

Diesen Fehler scheint Odermatt nicht machen zu wollen. Auch hier: alles organisiert, alles im Griff. Und dazwischen ab und zu Après-Ski. Blick-Experte Perren sagt: «Ich suche schon lange nach einem Fehler bei ihm und finde keinen. Die einzige Gefahr, die ich sehe, ist, dass er sich aufgrund von zu viel Risiko einmal richtig schwer verletzt.»

Als der junge Champion noch jünger war: Marco Odermatt im Jahr 2019.
Foto: Gian Paul Lozza/13PHOTO

Für Marcel W. Perren ist Odermatt gerade dabei, in Sphären vorzustossen, in denen nur ganz wenige Skirennfahrer je waren: «Am Anfang meiner Karriere begleitete ich Herrmann Maier. Ich dachte, so einem Phänomen werde ich nie mehr begegnen. Ich habe mich geirrt.» Odermatt mache Skifahren wieder sexy. Es gibt ein Bild von Odermatt mit Federer. Die beiden sehen aus wie grosser und kleiner Bruder. Im Vergleich zu Federer hat das Phänomen Odermatt aber seine natürlichen Grenzen, wie Perren sagt: «Mit Skifahren wirst du nicht zum globalen Mega-Star, dafür ist der Markt zu klein.»

Aber um eine der grössten Sport-Legenden des Landes zu werden, reicht es allemal.


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