Ein Foto. Mehr brauchte es nicht, um Flora Colledge für den härtesten Triathlon der Welt zu begeistern. Für den Norseman in Norwegen, das Königsrennen der Extrem-Triathlon-Weltserie. 3,8 Kilometer Schwimmen im kalten Wasser, 180 Kilometer auf dem Velo und zum Schluss einen Marathonlauf, gilt es zu absolvieren. Das Ganze mit einer Höhendifferenz von über 5000 Metern. Dazu kommt das garstige norwegische Wetter, Schnee im August ist eher die Regel als die Ausnahme. Was war das also für ein Bild, das die gebürtige Britin Flora Colledge derart in seinen Bann gezogen hat?
«Es war das Bild der Fähre, von der aus das Rennen beginnt. Die Athleten springen mitten in der Nacht von dieser Fähre aus drei Metern Höhe in den Fjord. Du siehst, dass es mega kalt ist. Das ist komplett verrückt. Und da wusste ich, das ist das Rennen, das ich gewinnen will», erzählt Colledge bei einem Treffen in Luzern, ganz in der Nähe der Universität, ihrem Arbeitsort. Sieben Jahre sind vergangen, seit sie dieses Foto gesehen hat. Vier Wochen sind vergangen, seit sie den Norseman zum ersten Mal gewonnen hat.
Sportsucht als Forschungsgebiet
Flora Colledge ist gebürtige Britin, in Belgien aufgewachsen und lebt seit zwölf Jahren in der Schweiz. In Luzern forscht und doziert die Medizinethikerin zum Thema Sportsucht. Etwa, weil sie als Extrem-Triathletin selbst gefährdet ist? Immerhin trainiert sie neben ihrem 60-Prozent-Pensum gut und gerne 25 Stunden pro Woche. Und die Rennen der Extrem-Triathlon-Serie verlangen den Athletinnen alles ab.
«Nein. Im Gegensatz zu Sportsüchtigen riskiere ich nicht meine Gesundheit. Es bricht keine Welt zusammen, wenn ich wegen einer Erkältung mal ein paar Tage nicht trainiere.» Wer unter Sportsucht leidet, kann diese Pausen nicht mehr einlegen, ist süchtig nach den Belohnungsgefühlen, die eine sportliche Aktivität auslöst. Die Bewegung wird zum Zwang. Hat erste Priorität, auch gegenüber dem Partner, der Familie, der Arbeitgeberin.
Mentale Meisterleistung
Colledge ist überzeugt, dass die meisten Norseman-Athletinnen, genau wie sie, nicht gefährdet sind. Denn am Norseman ist es zwar unerlässlich, in Topform zu sein. Doch das «Mental Game», wie die Triathletin es nennt, ist matchentscheidend. Wer im Kopf nicht ein klares Ziel vor Augen hat, wird am Norseman scheitern.
Bereits am Start werden die Nerven der Athleten arg auf die Probe gestellt. «Nachdem man von der Fähre ins Meer springt, muss man zu einer Boje schwimmen und dort so lange warten, bis das Startsignal ertönt», erzählt Colledge. In früheren Ausgaben mussten Athleten schon zehn Minuten im 16 Grad kalten Wasser ausharren, ehe das Rennen endlich eröffnet wurde. «Darum will niemand als Erstes von der Fähre springen. In diesem Jahr hat uns die Crew darum förmlich ins Wasser geschubst.»
Laufschuhe aus dem Publikum
Schon fünf Mal hat sich die Britin diese Tortur angetan. Im letzten Jahr war sie auf dem Rad derart durchnässt, dass sie wegen Unterkühlung zwei Stunden pausieren musste. Warum macht sie das? Warum begnügt sie sich nicht einfach mit einem normalen Triathlon? «Weil ich einfach keine Daniela Ryf bin, sondern einfach eine von vielen. Ich bin nicht schnell. Aber ich habe Ausdauer, ich habe Biss.» Darum meldete sie sich 2017 für ihren ersten Extrem-Triathlon an, den Swissman. Dieser beginnt im Lago Maggiore im Tessin und endet auf der Kleinen Scheidegg im Berner Oberland.
Bei der Premiere lief so ziemlich alles schief. Das Teamauto, welches Colledges Verpflegung und Material mitführte, konnte wegen einer Strassensperre nicht zur nächsten Wechselzone fahren, sodass die Luzernerin nach der Radstrecke ohne Verpflegung und ohne Laufschuhe dastand. Doch aufgeben war keine Option. «Ich rannte barfuss los, bis ein Zuschauer aus dem Publikum mir seine Laufschuhe anbot, sogar in meiner Grösse!» Dieser Biss, der sich schon damals zeigte, führte sie nun zum grössten Triumph ihrer Karriere, dem Sieg am berüchtigten Norseman.
Jetzt, da die Triathletin ihr sportliches Ziel erreicht hat, wartet eine ganz andere Herausforderung auf sie. Nach zwölf Jahren in der Schweiz ist sie endlich berechtigt, die C-Bewilligung zu beantragen. Im Herbst folgt dann der Einbürgerungstest. Und wenn alles gut läuft, wird Flora Colledge nächsten August mit dem Schweizerkreuz hinter der Startnummer die Mission Titelverteidigung in Norwegen angehen.