Woran erkennt man eine Sprint-Nation? Daran, dass sie nicht nur eine starke Läuferin hat, sondern auf ein breites Reservoir an schnellen Frauen zählen kann. So wie die Schweizerinnen, die letztes Jahr bei Olympia in Tokio mit Ajla Del Ponte (26) und Mujinga Kambundji (30) zwei Frauen im 100-m-Final hatten und mit der Staffel auf Platz 4 liefen.
Und auch daran, dass über die Aufstellung für den WM-Halbfinal in der 4x100-m-Staffel (Nacht auf Samstag) diskutiert werden kann wie über die Nati-Aufstellung vor einem Fussball-Länderspiel. So wie bei den Schweizerinnen. Bei denen macht nämlich Teamleaderin Kambundji Pause.
Verletzungen und eine depressive Episode machten ihr zu schaffen
An ihrer Stelle tritt eine Frau ins Rampenlicht, die zwei Jahre in der Hölle hinter sich hat: Sarah Atcho (27), Sprinterin aus Lausanne. Schwere Knieverletzungen, Depressionen und eine Herzbeutelentzündung machten ihr in den letzten Monaten zu schaffen.
Erst wurde sie vor einem Jahr nicht rechtzeitig fit, um bei Olympia in Tokio eine entscheidende Rolle zu spielen. Auch psychisch war sie am Boden. «Ich habe jeden Tag in meinem Bett gelegen und geheult», sagt sie später im Blick über die Zeit im olympischen Dorf. Ihre Therapeutin diagnostiziert eine depressive Episode.
Damit nicht genug: Als es darum ging, im Winter wieder in Schwung zu kommen, wurde bei ihr eine Herzbeutel-Entzündung diagnostiziert. Wochenlang durfte sie ihren Körper nicht zu sehr belasten. Wieder ein Rückschlag.
Kambundji bekommt eine Pause
Doch jetzt ist sie zurück auf der grossen Bühne. Im Staffel-Halbfinal soll sie die Kohlen für die Schweiz aus dem Feuer holen: Atcho wird im Plan, endlich eine Staffel-Medaille bei einem Grossanlass zu gewinnen, zum entscheidenden Mosaikstein. Sie soll Kambundji eine Verschnaufpause verschaffen – die Bernerin wird nach insgesamt sechs Läufen in den 100er- und 200er-Wettbewerben im Staffel-Halbfinal geschont, um nachher in der Entscheidung um die Medaillen wieder frisch zu sein.
Ein Risiko? Oder einfach logisch, weil die Schweiz genügend Joker in der Hinterhand hat? «Ihr schreibt doch immer, wir seien eine Sprint-Nation», sagt Staffel-Coach Adrian Rothenbühler. «Wir haben uns das gut überlegt und auch mit den Frauen im Team besprochen.»
Eine Überraschung ist es aber dennoch: Mit dem 21-jährigen Top-Talent Nathacha Kouni (11,12 Sekunden) hat die zweite Ersatzläuferin dieses Jahr eine deutlich schnellere Bestzeit als Atcho (11,29). «Nathachas Zeit in der Staffel wird kommen», sagt Rothenbühler. «Sarah ist schon lange dabei, ist routiniert, das Zusammenspiel mit den anderen funktioniert. Das gibt Vertrauen, das ist in der Staffel sehr wichtig.»
Für die Medaille muss im Final eine Steigerung her
Die Rechnung im Verband: Mit 42,90 Sekunden reichte es in den vergangenen Jahren auf Weltniveau jeweils in den Final, mit 42,60 sollte man in jedem Fall auf der sicheren Seite sein.
Zum Vergleich: Ende Juni in Stockholm lief die erste Staffel-Garnitur mit Géraldine Frey, Mujinga Kambundji, Salomé Kora und Ajla Del Ponte die 4x100 m in 42,13. Wollen die Schweizerinnen eine WM-Medaille, müssen sie wohl unter 42 Sekunden laufen. Da kann eine frische Kambundji nur helfen. Aber dafür muss zuerst der Halbfinal-Poker aufgehen. Wie es sich für eine Sprint-Nation gehört.