Es hätte der Höhepunkt ihrer sportlichen Laufbahn werden sollen. Doch für Sarah Atcho werden die Olympischen Spiele in Tokio zum Albtraum. «Ich habe jeden Tag in meinem Bett gelegen und geheult», sagt die 26-jährige Sprinterin über die Zeit im olympischen Dorf. «Ich wusste nicht, was ich tun soll, wollte mich nur verstecken.» Die Westschweizerin bricht in Japan zusammen. «Anders kann man es nicht sagen.» Später wird ihr ihre Therapeutin eine depressive Episode diagnostizieren.
Das Verrückte: Wer Atcho im Olympia-Sommer in Tokio erlebt, merkt ihr überhaupt nichts an. Sie lacht und strahlt, wie sie es immer tut. Sie scheint gut drauf zu sein, auf Instagram postet sie Video-Schnipsel, wie sie mit allen möglichen Schweizer Olympia-Athleten fiebert. Teamkollegin Léa Sprunger bezeichnet sie als «Super-Influencerin von Swiss Olympic». Blick erklärt sie zum «Super-Fan».
Atcho ist in Japan bloss ein Fan
Darin liegt aber genau Atchos Problem. Sie ist in Japan nicht mehr als ein Fan. «Ich war nur Dekoration, und ich wusste es», sagt sie heute. Ihr Körper erlaubt es der Lausannerin nicht, Teil der 4x100-Meter-Staffel zu sein, die Geschichte schreiben will: Vier Frauen sollen die erste Sprint-Medaille überhaupt für die Schweiz holen. Nur, dass die vier Frauen Mujinga Kambundji, Ajla Del Ponte, Salomé Kora und Riccarda Dietsche heissen.
Atcho bleibt aussen vor, sie ist nach zwei Jahren mit schweren Verletzungen nicht rechtzeitig wieder in Form gekommen. Ihr bleibt einzig die Rolle als Ersatzläuferin, nachdem sie jahrelang zum Stammpersonal zählte und bei den Erfolgen der letzten Jahre, als man immer knapp am WM- und EM-Podest vorbeigeschrammt war, als Mitglied der Equipe gesetzt war. «Du realisierst, nicht mehr richtig Teil der Gemeinschaft zu sein. Es fühlt sich an, als ob man zur Seite geschoben würde, wenn man nicht mehr im Nationalteam ist», beschreibt sie. «Vielleicht war es für mich zu selbstverständlich. Wie es so ist: Wenn man etwas nicht mehr hat, vermisst man es extrem.» Und trotzdem versucht sie zu kämpfen. «Aber es wollte auf 100 und 200 Meter einfach nicht mehr laufen. Dann kommen die Nationaltrainer dazu, die Druck machen, damit du wieder auf dieses Level kommst. Mein Körper und mein Gehirn haben irgendwann gesagt: Stopp.»
«Ich bin sonst die Lustige, die alle zum Lachen bringt»
Der Höhepunkt fällt aus und Atcho in ein Loch. «Olympia war für mich wie Folter», sagt sie. «Ich war so traurig. Dabei bin ich die Lustige, die alle zum Lachen bringt. Aber in diesen Momenten wollte ich das überhaupt nicht. Es hat mich gequält, alles war zu viel.»
Ihren Teamkolleginnen erzählt sie lange nichts. Kambundji, Del Ponte und Dietsche werden bis zum Ende der Spiele nicht erfahren, wie es wirklich in ihr aussieht. Salomé Kora (27) dagegen weiht sie ein. «Sie hat es mir zwischen den 100-Meter-Läufen und dem Staffelwettbewerb erzählt», sagt Kora am Donnerstag zu Blick, kurz bevor sie nach Dubai ins Trainingslager reist. Die St. Gallerin ist nicht überrascht. «Wir kennen uns schon lange, und ich habe gemerkt, dass es schwierig ist für sie.»
Schon vor den Spielen sprechen Atcho und Kora darüber, dass die Situation in Tokio schwierig werden könnte für die Lausannerin. «Ich habe ihr da schon gesagt, ich wisse nicht, ob ich so stark wäre, hinzugehen und nur zuzuschauen. Aber für sie war klar: Sie ist lieber dabei, statt zu Hause zu sitzen und sich selber zu bemitleiden. Und bemitleidet hat sie sich nie.»
Atcho über Kora: «Sie hat mich nicht verurteilt»
Kora hört zu, als Atcho reden will. «Sie hat mir sehr geholfen. Sie hat mich nicht verurteilt, sondern sich Zeit genommen für mich und mir geraten, mir daheim in der Schweiz Hilfe zu suchen», sagt die 26-Jährige. «Als sie es mir gesagt hat, hat mich das schon getroffen», so Kora. «Wir haben dort geredet, und wir haben auch nach den Spielen viel geredet. Im Nachhinein finde ich, dass sie es sehr gut gemacht hat. Sie ist schon in Tokio sehr gefasst mit der Situation umgegangen.»
Mittlerweile hat sich Atcho die Hilfe geholt, die sie braucht. Sie hat gelernt, dass es «menschlich ist, enttäuscht zu sein», sagt sie. «Wir sollten das vielleicht akzeptieren und mehr darüber reden.» Und sie hat auch gelernt, dass der Sport nicht alles im Leben sein kann. «Für mich gab es nur die Leichtathletik, ich habe mich nur darüber definiert. Ich hatte das Gefühl, ich sei nichts mehr wert, wenn ich die Leichtathletik nicht mehr habe. Aber das stimmt doch nicht. Ich bin doch viel mehr als nur eine Sportlerin.»
Neu trainiert sie in Zürich
Aber ohne Sport gehts nicht: Mittlerweile trainiert sie wieder, hat sich der Gruppe von Sprint-Nationaltrainer Patrick Saile in Zürich angeschlossen. Die Trainingsgruppe in Belgien, wo sie zuletzt ein Jahr war, hat sie verlassen. Einmal pro Woche geht sie in die Therapie. «Das ist für mich eine Trainingseinheit, das gehört jetzt dazu.»
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Nächste Saison will sie wieder angreifen. Auch ihre Freundin Salomé Kora erwartet Grosses von ihr. «Wenn sie in Tokio hilflos war, hat sie jetzt ihr Schicksal wieder in der Hand», sagt sie. «Sie wird dieses Erlebnis am Ende als etwas Positives mitnehmen, das sie stärker macht.» Das nächste Jahr bringt neue Chancen: Es stehen eine WM und eine EM auf dem Programm. Noch immer jagen die Schweizerinnen dem Traum von der Medaille bei einem Grossanlass hinterher. Vielleicht ja wieder mit Atcho im Team.