Es ist der Albtraum jeder Stabspringerin: Man macht alles richtig und trotzdem geht alles schief. So wie bei Angelica Moser (24) am 10. August. Die Zürcherin steckt nach der Riesen-Enttäuschung an den Olympischen Spielen in Tokio, wo sie den Final verpasste, voller Tatendrang, steigt nach ihrer Rückkehr sofort wieder voll ins Training ein. Dann passiert es: Bei einem Routinesprung bricht ihr Stab entzwei, Moser stürzt ab, landet neben der Matte und mit schweren Verletzungen im Spital, der untere Teil des Stabs trifft sie voll. Diagnose: Bluterguss am Rücken, Muskelfaserrisse, ein kleiner Pneumothorax.
Happig. Und doch hat Moser Glück im Unglück: Im Gegensatz zu ihrer österreichischen Freundin Kira Grünberg (28), die seit einem ähnlichen Sturz im Training seit 2015 querschnittgelähmt ist, kommt sie mit dem Schrecken davon. Und mit höllischen Schmerzen, auch nachdem sie aus dem Spital entlassen wird. «Ganz am Anfang konnte ich kaum aufstehen, hatte extreme Probleme mit dem Kreislauf. Ich habe es jeweils knapp in die Küche geschafft, dann wurde mir schwarz vor Augen», erzählt Moser. «Es ist mir wirklich nicht gut gegangen. Ich wurde von der körperlichen Topform auf null heruntergebremst.»
«Das Ziel war zuerst, wieder in den Alltag zurückzukommen»
Wenige Tage nach den Olympischen Spielen, wo die frühere Nachwuchs-Dominatorin nach Gold bei den Hallen-Europameisterschaften in Torun (Pol) im Frühjahr ihr riesiges Potenzial ein weiteres Mal bei den Erwachsenen unter Beweis stellen wollte, wird sie auf Feld 1 zurückgeworfen. Statt im Saisonendspurt zu stehen mit der Chance auf sportliche Rehabilitation, liegt sie im Spital. Die Prioritäten verschieben sich rasch. «Das Ziel war zuallererst, wieder in den Alltag zurückzukommen», sagt Moser. «Und mich dann ans Training heranzutasten.»
Das ist bis heute gar nicht so einfach. «Es ist ein Auf und Ab», sagt sie. «Es ist überhaupt nicht so, dass alles wieder gut ist. Es ist immer noch ein Krampf.» In den ersten Wochen nach dem Unfall lernt sie ein Gefühl kennen, das ihr längst fremd geworden ist: Nichts zu tun. «Das letzte Mal, dass ich einfach gar nichts gemacht habe, das war, bevor ich mit Sport angefangen habe.»
Omi-Spaziergänge und Gedächtnistraining
Und so bleibt Moser nicht länger ausser Gefecht als unbedingt nötig. «Sobald ich mich etwas bewegen konnte, habe ich das getan. Ich habe mich so sehr darüber gefreut, schon nur wieder spazieren zu können – auch wenn das Omi-Spaziergänge waren.» Ebenfalls auf dem Programm: Atemtherapie und Gedächtnistraining. «Ich bin ja auf den Kopf gefallen», sagt sie lachend.
Vor wenigen Tagen folgt der erste echte Lichtblick: Moser traut sich, erstmals wieder zu springen. «Es sind nur kleine Sprünge», sagt sie über die Hüpfer im Training in Magglingen. «Erste Annäherungsversuche. Der Anlauf ist noch kurz, die Stäbe sind weich.»
Fliegt die Angst mit?
Und trotzdem ist das bemerkenswert. Sich wieder voll in den Stab hineinzuhängen, dass sich dieser voll durchbiegt und sie durch die Lüfte katapultiert – das kann nur, wer volles Vertrauen ins Material hat. Fliegt die Angst mit nach einem schlimmen Unfall wie ihrem? Moser überlegt kurz, dann lacht sie. «Nein, bisher überhaupt nicht. Aber ich werde dauernd gefragt, ob ich Angst habe, wieder zu springen. Manche Leute haben mich sogar gefragt, ob ich überhaupt wieder zurückkommen werde. Das war für mich gar nie eine Frage.»
Klar ist aber auch: Die ganz grossen Sprünge wagt sie noch nicht, vielleicht ändert sich alles noch einmal, wenn es dann auf vier Meter und höher geht. «Ich werde häufig auch gefragt, ob ich nach dem Unfall mit einem Psychologen zusammenarbeiten möchte, um das alles zu verarbeiten. Das tue ich momentan nicht. Ich glaube, ich habe kein Problem. Sollte trotzdem eines auftauchen, weiss ich, an wen ich mich wenden kann.»
Und trotzdem ist völlig offen, wie es weitergeht. Ob sie in der Hallensaison Wettkämpfe bestreiten wird, weiss Moser noch nicht. Im Training sollen die nächsten Schritte folgen, einer nach dem anderen.