Vor einem Jahr war sie ganz oben: Ajla Del Ponte (26) stürmte bei den Olympischen Spielen in Tokio in den 100-m-Final. Dort setzte sie noch einen drauf: Platz 5, beste Europäerin, der helle Wahnsinn.
Am Mittwoch läuft Del Ponte nicht im Olympiastadion von Tokio, sondern im Leichtathletik-Stadion Hard in Langenthal. Immerhin: Wahrscheinlich werden mehr Menschen vor Ort zuschauen als an den Pandemie-Spielen in Japan, wo die Plätze in der riesigen Arena leer bleiben mussten.
Trainer-Ärger wegen Selektions-Prozess
Doch davon abgesehen ist alles anders: Erst war sie verletzt, dann lief sie an der WM in Eugene (USA) hinterher, schied in 11,41 im Vorlauf aus. Und jetzt muss Del Ponte sogar um die EM-Teilnahme zittern, statt die Medaillen ins Visier zu nehmen! In Langenthal kämpft sie gegen Géraldine Frey (25) ums letzte Ticket für München. Ein tiefer Fall.
Doch ohne Nebengeräusche geht es nicht. Sowohl Del Ponte wie auch Frey sind nicht glücklich mit dem Entscheid, noch einmal antreten zu müssen. «Ich habe das Gefühl, dass man die letzten zehn Jahre den Fokus auf andere Kriterien gelegt hat», sagt Del Pontes Trainer Laurent Meuwly über die Selektion, für die nach offiziellen Vorgaben Leistung, Konstanz, Formkurve und Direktvergleiche berücksichtigt werden sollen.
Bulle-Zeit gibt zu reden
Hintergrund: Neben der unumstrittenen Mujinga Kambundji (30) wird der konstanten Frey (Saisonbestzeit: 11,23) und der lange mit einer Verletzung kämpfenden Del Ponte (11,26; 2021: 10,90) auch das ultratalentierte Sprint-Juwel Nathacha Kouni (21) vorgezogen. Die Zürcherin knallte im Juli im Vorlauf in Bulle eine Zeit von 11,12 Sekunden auf die Bahn: Top 12 in Europa und damit direkt für den EM-Halbfinal startberechtigt – aber (neben ihrer Bulle-Finalzeit von 11,14) auch ein Ausreisser im Vergleich zum Rest ihres Resumées.
Dazu muss man wissen: Die Bedingungen in Bulle sind in der Szene als überdurchschnittlich schnell bekannt, Kouni hatte zulässigen, aber starken Rückenwind. Im Direktvergleich hat sie diese Saison weder Del Ponte noch Frey geschlagen, die beide wegen der Vorbereitung auf die WM auf einen Bulle-Start verzichtet hatten.
«Es ist nicht fair, dass dieses Kriterium nun den entscheidenden Ausschlag gibt und argumentiert wird, Ajla und Géraldine seien nicht oder nicht mehr in Hochform», kritisiert Freys Trainerin Rita Schönenberger in der «Aargauer Zeitung».
In der Staffel laufen sie wieder gemeinsam
Trotz der Klagen der Coaches kommt es nun zum Showdown im Oberaargau. «Am Schreibtisch» habe man den letzten Startplatz nicht vergeben wollen, sagt Verbands-Leistungssportchef Philipp Bandi. «Das hätten wir nicht mit gutem Gewissen gekonnt.» Mit «50:50» schätzt Meuwly die Chancen ein. «Es geht für Ajla gar nicht nur darum, Géraldine zu schlagen. Sie braucht jetzt schwarz auf weiss ein starkes Ergebnis. Sonst wird es ohnehin schwierig in München.»
Der Fribourger wähnt seine Athletin gar nicht weit weg von ihrer Spitzenverfassung. «Körperlich ist sie praktisch wieder auf dem Level wie in Tokio. Die Frage ist, wie sie mental drauf ist. Wenn sie mit dem Druck nicht umgehen kann, müssen wir über die Bücher.»
Was schon vor dem Showdown sicher ist: Mit der Staffel werden Frey und Del Ponte zusammen antreten – und gemeinsam auf EM-Medaillenjagd gehen.