Nichts deutete darauf hin, dass Hellen Obiri (34) dereinst eine der grössten Läuferinnen der Gegenwart werden würde. Mit 13 Jahren begann sie zu rennen, wie das halt so ist in Kenia, im Land der Langstreckenläufer. Aber prägend waren ganz andere Dinge für das vierte von sechs Kindern einer armen Familie: dass sie regelmässig barfuss und hungrig zur Schule ging, sechs Kilometer hin, sechs Kilometer zurück. Dass sie literweise Wasser den Hügel zur Hütte ihrer Eltern hochschleppen musste, so viel, dass ihr der Rücken und die Schultern wehtaten.
«Meine Familie war so arm, ich habe irgendwann selber ein bisschen etwas dazuverdient», sagt Obiri im Gespräch mit Blick. «Ich habe Zuckerrohr gekauft und wieder verkauft. Den kleinen Gewinn habe ich meiner Mutter gegeben.»
Heute erzählt sie das mit einem Lächeln im Gesicht. «Das war nicht immer einfach, aber es hat mich geformt.» Obiri ist aus Boulder, Colorado (USA), per Videocall zugeschaltet. Dort trainiert sie seit zwei Jahren in der Trainingsgruppe des On Athletic Clubs ihres Ausrüsters, des Schweizer Schuhherstellers On, an dessen neuen Lightspray-Schuh sie massgeblich mitgearbeitet hat. Ihr Mann und ihre Tochter sind mit ihr in die USA gegangen, im Moment sind ihre Eltern zu Besuch. «Meine Eltern sind sehr stolz. Meine Familie und On sind eine grosse Stütze für mich. So fühlt sich der Marathon wie ein gemeinsames Projekt an.»
Die Schweizerin Fabienne Schlumpf (33) geht am Sonntag zum ersten Mal beim New-York-Marathon an den Start. «Ich habe sehr gut trainiert und fühle mich in Form. Man bekommt nicht oft die Chance, in Topform in New York anzutreten. Diese Möglichkeit will ich nützen», sagt die Zürcherin. Zuletzt lief es der Olympia-16. von Paris beim Greifenseelauf und beim Murtenlauf richtig gut. Und so könnte es sein, dass Schlumpf sogar in die Nähe ihres eigenen Schweizer Rekords (2:24:30 Stunden) laufen könnte.
Die Schweizerin Fabienne Schlumpf (33) geht am Sonntag zum ersten Mal beim New-York-Marathon an den Start. «Ich habe sehr gut trainiert und fühle mich in Form. Man bekommt nicht oft die Chance, in Topform in New York anzutreten. Diese Möglichkeit will ich nützen», sagt die Zürcherin. Zuletzt lief es der Olympia-16. von Paris beim Greifenseelauf und beim Murtenlauf richtig gut. Und so könnte es sein, dass Schlumpf sogar in die Nähe ihres eigenen Schweizer Rekords (2:24:30 Stunden) laufen könnte.
Obiri hat in den letzten Jahren in der Tat erstaunliches geleistet. Nachdem sie zuvor auf der Bahn grosse Erfolge gefeiert hatte, unter anderem wurde sie 2017 und 2019 Weltmeisterin über 5000 m und holte weitere WM- und Olympia-Medaillen, hat sie sich die ganz grossen Ziele vorgenommen: die Marathon-Distanz. Und wie sie das gemacht hat: Von den fünf Marathons, die sie überhaupt erst bestritten hat, hat sie drei gewonnen. Die letzten beiden Boston Marathons und den letztjährigen New York Marathon. Als erste Frau seit 35 Jahren siegte sie 2023 in Boston und in New York. Bei Olympia in Paris lief sie zu Bronze, ihr schlechtestes Ergebnis stammt von ihrem Marathon-Debüt 2022, als sie Sechste wurde.
Viktor Röthlin sieht bei Obiri noch mehr Potenzial
Das bringt auch einen wie Viktor Röthlin (50) ins Staunen. Die Schweizer Marathon-Ikone hat in ihrem Leben viele Läuferinnen gesehen. Bei Obiri sieht er aussergewöhnliche Anlagen. «Sie ist keine grosse Stilistin. Aber sie kann sich in ein Rennen reinbeissen. Sie kommt erst jetzt so langsam in den Bereich, wo sie weiss, wie so ein Marathon überhaupt läuft.» Dass sie in den USA trainiert, während die ganze Welt nach Kenia reist, um dort an der Form zu feilen, ist für Röthlin völlig nachvollziehbar. «Zu Hause will jeder etwas von ihr», sagt er. «Vor allem Geld.» In Afrika, wo Strukturen und Institutionen so schwach sind, dass sich jedermann mit Verbindungen und Bekanntschaften durchzuschlagen versucht, sind Spitzenathleten eine besondere Zielscheibe. «Bei einer Läuferin wie Obiri ist das extrem», sagt Röthlin. «Es steht in der Zeitung, wie viel sie verdient.» 100'000 US-Dollar gab es etwa für den Sieg beim New York Marathon des letzten Jahres. Da kommen dann mehr als nur die engen Verwandten an und fragen nach einem Zustupf.
«Kenia bleibt meine Heimat», sagt Obiri. «Auch wenn ich in Boulder inzwischen zu Hause bin.» Immerhin muss sie auf Ugali nicht verzichten: Das traditionelle kenianische Maisgericht kann sie auch in den USA in einem afrikanischen Lebensmittelgeschäft besorgen. «Das war am Anfang meine grösste Angst», sagt sie lachend. «Aber das ist kein Problem.» Und so geht Obiri auch am Sonntag in New York City bestens gestärkt ins Rennen. Auf der Jagd nach dem vierten Marathon-Sieg in ihrer Karriere.