Es ist das Rätsel von Götzis. Zehnkämpfer Simon Ehammer (24) liegt nach neun Disziplinen auf dem vierten Rang, als er sich scheinbar aus dem Nichts aus dem Wettkampf abmeldet. Totaler Blackout.
Doch sowas kommt den Schweizer Sportfans bekannt vor. Am 10. August 2023 kommts zum Rätsel von Glasgow. WM-Zeitfahren der Rad-Frauen. Als Olympia-Zweite von Tokio 2021 startet die Berner Ärztin Marlen Reusser (32) als eine der grossen Favoritinnen und ist gut unterwegs. Dann, kurz vor der zweiten Zwischenzeit der Schock: Reusser hört einfach auf, legt ihre Rennmaschine an den Strassenrand. Setzt sich daneben ins Gras und vergräbt ihr Gesicht in den Händen.
Aus dem Nichts einfach Stecker raus. Wie bei Ehammer. Reusser brauchte lange, bis sie sich erklären konnte. Nach Wochen sagte die Bernerin, sie habe einfach keine Lust mehr gehabt, weiter zu strampeln, habe in dem Moment keinen Sinn mehr in ihrem Tun gesehen. Es dauerte, bis der Kopf gelüftet, die Lust aufs Rennfahren – ihre grosse Leidenschaft – wieder da war.
Nach einer Stunde taucht Ehammer wieder auf
Im Mösle-Stadion von Götzis wirkt alles noch surrealer. Denn beim Showdown der besten Zehnkämpfer der Welt mischt der 24-jährige Appenzeller während neun der zehn Events ganz vorne mit. Von Pfingstsamstag auf -sonntag übernachtet Ehammer als Halbzeit-Leader.
Nach Dämpfern in den Würfen mit dem Diskus und dem Speer liegt er vor dem abschliessenden 1500-m-Lauf noch immer auf Rang 4. Dann die Hiobsbotschaft vom Stadionspeaker: «Der Schweizer Simon Ehammer hat sich für den 1500-m-Lauf abgemeldet!» Plötzlich Stille im Stadion. Die Zuschauer verstehen die Welt nicht mehr. Seine beiden Trainer René und Karl Wyler scheinen genauso ratlos. «Wir wissen nicht, was los ist. Aber wir sorgen dafür, dass Simon wieder auftaucht.»
Nach fast einer Stunde steht der Hallen-Weltmeister dann da. Mit wässrigen Augen, seine Verlobte Tatjana Meklau an der Seite. Noch immer scheinen Ehammer und die Wyler-Brüder als «Trio Ratlos». Wie sollen sie etwas erklären, das sie selber noch nicht verstehen? Schliesslich sagt Simon: «Mein Tank war plötzlich leer. Ich bin schon im Diskuswerfen und im Stabhochsprung plötzlich in eine Abwärts-Spirale geraten – mental und körperlich. Und ich habe keinen Weg gefunden, da wieder rauszukommen.» Er sei nach dem Speerwerfen dagesessen und Tränen seien ihm über die Wangen gekullert. «Ich kann nicht einmal sagen, warum.»
In der Wurfdisziplinen verliert er den Wettkampf-Flow
Ausgerechnet der scheinbar unerschütterliche Ehammer. Doch diesmal: Blackout total! Und das drei Wochen vor der EM in Rom, wo er aufs Weitsprung-Podest will. Und zweieinhalb Monate vor Olympia in Paris, wo er im Zehnkampf und im Weitsprung glänzen möchte. Kann Ehammer diesen Götzis-Schock innert so kurzer Zeit abhaken? Vielleicht würde es helfen, bei Marlen Reusser Rat zu holen. Denn sie ist sportlich wieder in der Spur.
Klar – Simon hat in Götzis auch mit Widerwärtigkeiten zu kämpfen. Nicht bloss mit seiner im Herbst operierten rechten Schulter, die ihn bei den Würfen noch einschränkt. Es sind Kleinigkeiten wie ewig lange Wartezeiten im Diskus und beim Stab, weil irgendwas nicht parat ist. «Warum passiert das immer ausgerechnet bei mir?», fragt er einen der Verantwortlichen. «Da habe ich den Flow im Wettkampf verloren», sagt er.
War am Ende schlicht der Druck zu gross? Ehammer kündigte den Angriff auf gleich beide Olympia-Limiten an. «Klar werden mir Kritiker das jetzt vorwerfen. Aber, das habe ich schon mehrfach so gemacht. Ich weiss, was ich kann, stehe dazu und sage es halt auch.»
Simon Ehammer – wie er leibt und lebt. Und so soll es bleiben. Das Blackout von Götzis mit Hilfe von Marlen Reusser schnellst möglich aufarbeiten und die richtigen Lehren ziehen. Für ein Trauma bleibt keine Zeit. Rom und Paris sind nicht Götzis.