In Brasilien spricht alles von der Wahnsinnsoffensive. Dabei hat der fünffache Weltmeister auch die beste Innenverteidigung der Welt. Marquinhos (28), 72 Länderspiele, Patron bei PSG. Der zehn Jahre ältere Thiago Silva (38), «The Boss» bei Chelsea, 110 Seleção-Einsätze, Captain. Und Eder Militão (24), 23 Länderspiele, Abwehrchef von … Champions-League-Sieger Real Madrid. Und Reservist!
Tite lässt immer alle im Ungewissen
Der Chef auf dem Platz ist Marquinhos. Aber unter Trainer Tite ohne Garantie. «Wir wissen jeweils nicht, wer spielen wird. Jeder, der reinkommt, kann eigene Qualitäten einbringen. Aber alles, was wir zuletzt versucht haben, hat geklappt. Das gibt Gewissheit», sagt der Mann von PSG, dem Katarer nicht fremd sind, gehört doch der Klub Scheichs aus dem Mini-Wüstenstaat. «Manchmal beginnen wir mit einer Formation und beenden das Spiel anders.»
Brasilien ganz offen
Brasilien 2022 gibt sich betont locker. Die Presse durfte im Vorfeld der WM, als man sich in Turin, im Trainingscenter von Juventus, auf Qatar vorbereitete, jeweils über die volle Distanz dabei sein. Erstaunlich, schotten sich andere Nationen doch ab. Derweil jene mit der grössten Journalistenschar das Gegenteil macht. In Brasilien kriegt man alles live mit. «Wir haben nichts zu verstecken. Die TV-Sender übertragen unsere Trainings, dazu gibts Social Media – das tut nur gut», sagt Marquinhos. «Und es wird nicht so viel spekuliert. Wenn etwas passiert, sehen es alle. Dann kann man offen darüber reden.» Weise Worte, die sich jeder Fussballverband hinter die Ohren schreiben sollte.
Auch Brasilien ohne Schienbeinschoner
Und, ja: Auch Brasilien trainiert zum Erstaunen vieler Laien ohne Schienbeinschoner! Keine Angst, dass den millionenteuren Beinchen was passiert? Marquinhos sagt, sie wüssten genau, was sie tun: «Wir wissen, dass wir aufpassen müssen. Es bringt nichts, voll in die Zweikämpfe zu steigen. Darum tragen wir auch keine Schienbeinschoner. Die Intensität unserer Trainings ist sehr hoch, wir haben zwei Teams, die auf Topniveau sind. Aber wenn man zu spät dran ist, darf man nicht voll einsteigen. Das klappt sehr gut.»
Der Ärger des Thiago Silva
Brasilien wirkt ganz cool. Und doch gibt es Nebengeräusche. So hat Serbiens Trainer Dragan Stojkovic an der Medienkonferenz vor dem Brasilien-Spiel auf die Frage nach den vielen Stürmern des fünffachen Weltmeisters geflachst: «Brasilien wird mit vier Stürmern gegen uns antreten? Ist denn da irgendjemand in der Abwehr?» Thiago Silva goutierte das gar nicht. Der Captain nach dem diskussionslosen 2:0: «Das ist respektlos! Wenn er unser Team studiert hätte, wüsste er, dass wir kaum Tore kassieren.» Konkret: 2 in 9 Spielen in diesem Jahr. 4 in 16 Spielen 2021. Absolut überragende Werte!
Der Neymar-Schock
Und dann ist da natürlich das grosse Thema: Neymar. Alle hoffen, dass der Superstar in den Achtelfinals wieder ins Geschehen eingreifen kann. Denn der Klubkollege von Marquinhos – die beiden PSG-Stars sind dicke Freunde – ist von unschätzbarem Wert. Und wenn das einer einschätzen kann, dann der Mann aus São Paulo: «Der Druck, der auf ihm lastet, ist nicht zu negieren. Aber das ist so, seit er in der Seleção ist. Er weiss, wie er damit umgehen muss. Er war physisch super drauf. Ich weiss das, weil ich ihn täglich gesehen habe. Er ist sehr fokussiert und hat auf einiges im Alltag verzichtet. Er weiss genau, dass dies sein Moment sein kann. Er muss sich nichts Zusätzliches aufladen, wir werden seine Last auf alle Schultern verteilen.»
Das beste Brasilien seit 2002
Doch auch das Neymar-Drama ändert nichts an der Fokussierung von Brasilien auf den sechsten WM-Titel, den das Team holen soll, das in der Heimat als bestes seit dem letzten Weltmeister 2002 eingestuft wird. «Wir wollen Geschichte schreiben und reden auch über das Thema», sagt Marquinhos. Die Defensive wäre ein entscheidendes Puzzleteil.