Stein auf Stein, Kopf an Kopf zu einem Mahnmal aufgereiht. So stehen sie da, die Portraits der gefallenen Soldaten aus Kriegsgebiet in Donbass. Der schaurige Anblick der ausgebleichten Bilder der Toten auf dem Maidanplatz in Kiew führt selbst in der prallen Mittagsonne zu Gänsehaut. Gleich neben der Gedenkstätte pulsiert das volle Leben in den Strassen. Fünf Monate war die Ukraine im Lockdown gefangen, ehe sich Regierung im Juli entschloss, die Corona-Fesseln für die Bevölkerung zu lockern. Die Geschäfte sind wieder offen, doch überall herrscht Maskenpflicht.
Halyna Yanchenko, wie wichtig ist Fussball in diesen schwierigen Zeiten für die Ukraine?
Fussball ist die absolute Nummer 1 bei uns. Wir lieben den Fussball über alles. Sogar in TV-Polit-Sendungen wird über Fussball geredet. Das ist schon erstaunlich und sehr amüsant. Da wird heftig diskutiert und gestritten, wenn zum Beispiel ein Trainer von Schachtar Donezk zu Dynamo Kiew wechselt.
Apropos Trainer. Welchen Stellenwert hat der frühere Stürmerstar Andrej Schewtschenko als heutiger Coach der Ukraine?
Er macht das jetzt schon seit vier Jahren und ist immer noch sehr beliebt. Er ist ein richtiger Nationalheld. Der wohl beste Spieler, den wir je hatten und jetzt führt er unsere Mannschaft als Trainer an. Perfekt.
Er empfängt die Schweizer Nati unter sehr ungewöhnlichen Umständen. Das Coronavirus, der Krieg gegen Russland und die Unruhen in Weissrussland …
Für die Fans ist es sicher sehr traurig, dass das Spiel wegen Corona ohne Zuschauer stattfindet. Ich habe letztes Jahr ein paar Heimspiele der Ukraine live miterlebt. Die Atmosphäre im Stadion ist einfach grossartig und nicht vergleichbar, wenn man es am TV schaut. Ich hoffe, wir kriegen Corona bald in den Griff und den Konflikt gegen Russland auch.
Wie bedrohlich ist der Krieg im Osten für den Rest des Landes?
Das Schweizer Nationalteam muss sich keine Sorgen machen. Zwischen der Front in Donezk und dem Spielort Lemberg liegen über 1000 km. Der Krieg ist da auch in den Köpfen weit weg. Manchmal vergessen selbst die Menschen in Kiew den Konflikt, weil die Gefechte nicht direkt spürbar sind und das Leben in den Städten normal weitergeht.
Trotzdem befindet sich die Ukraine politisch in einem aufgeheizten Umfeld …
Unsere grösste Sorge ist immer noch der Krieg in Donbass. Wir haben in den letzten sechs Jahren über 14’000 Menschen verloren. Unser Präsident Wolodomir Silensky bemüht sich mit höchster Priorität um Frieden. Im Moment gibt es zum Glück keine Toten mehr – dank dem Austausch von Gefangenen haben wir einen Waffenstillstand. Es gibt Fortschritte, aber wir haben unser Ziel noch nicht erreicht.
Dazu müssten die pro-russischen Separatisten zurückweichen …
Niemand auf der Welt zweifelt mehr daran, dass diese Kämpfer echte russische Soldaten sind und von Wladimir Putin mit Waffen ausgerüstet werden. Nur Putin kann diesen Krieg beenden, indem er seine Truppen zurückzieht. Wir wollen das ganze Land und unsere Leute zurück. Und ich meine damit nicht nur die Region Donbass, sondern auch die Halbinsel Krim, die von den Russen überfallen wurde.
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In diesen Gebieten gibt es aber Ukrainer mit russischen Wurzeln …
Das ist auch völlig in Ordnung, aber deshalb kann man nicht einfach die Grenze verschieben. Sie leben auf ukrainischem Boden. Es gibt in jedem Land verschiedene Menschen und Ethnien, die zusammenleben. Heutzutage ist die Welt so globalisiert und kosmopolitisch. Wir haben in unserem Land nicht nur Russen, sondern auch Griechen, Polen und auch ganz viele Deutsche. So funktioniert die moderne Welt.
Dennoch mischt sich Putin auch in Weissrussland ein …
Das Land ist in grosser Aufruhr, aber wir unterstützen die demokratische Bewegung. Wir befürchten nun aber, dass Putin das Land annektieren will. Es wurden schon Militärfahrzeuge gesehen, die über die Grenze nach Weissrussland gefahren sind. Putin soll sich auf sein Land konzentrieren und nicht seine Nase überall reinstecken. Russland hat schon genug eigenen Probleme. Die Wirtschaftslage ist schlecht und die Arbeitslosigkeit hoch.
Haben Sie keine Angst so zu sprechen?
Nein, ich fürchte mich nicht. Ich habe ein Recht darauf, die Wahrheit zu sagen.
Gut, dann kommen wir zu einem anderen heiklen Thema: BLICK veröffentlichte eine Story über einen Schweizer Neo-Nazi, der in Donbass für die Ukraine kämpft …
Das ist mir neu. Unsere Einheiten an der Front sind sehr heterogen. Wir haben einerseits unsere eigene Armee, aber auch viele Freiwillige, die für uns kämpfen. Das hat damit zu tun, dass unsere Streitkräfte zu Beginn des Krieges 2014 sehr schlecht aufgestellt waren. Es fehlte an Waffen, Ausrüstung und auch an Soldaten. Viele ukrainische Bürger fühlten sich verpflichtet, für die Unabhängigkeit zu kämpfen. Sie kündigten ihren Job, um ihr Land zu verteidigen. Es gab auch viele Spenden aus der Bevölkerung, um die Ausbildung freiwilliger Soldaten zu fördern.
Und in der Not dürfen auch Schweizer Kriegs-Touristen für die Ukraine kämpfen?
Dieser Fall ist mir nicht bekannt. Und es ist wahrscheinlich so, dass er nicht offiziell als Soldat gemeldet ist. Das läuft unter dem Radar. Es tut mir leid, aber über dieses Thema kann ich keine Auskunft geben.
Der Zweck heiligt also die Mittel?
Ich sage nicht, dass unsere Truppen offen sind für alle. Für uns ist es aber wichtig, dass wir freiwillige Kämpfer einbinden können und sie ein Teil der offiziellen Armee werden. So haben wir auch eine bessere Kontrolle über die gesamte Situation. Aber es ist schwierig abzuschätzen, wie viele Söldner im Einsatz sind.
Wie bewerten Sie das Verhalten der EU und der Nato gegenüber Russland?
Ich bin Deutschland überaus dankbar. Die Anstrengungen von Angela Merkel schätze ich sehr. Sie hat die Sanktionen vorangetrieben und den Dialog zwischen Russland und der Ukraine gefördert. Nun dauert der Krieg aber schon sechs Jahre – in der heutigen Zeit sind wirtschaftliche Sanktionen effektiver wie militärische Handlungen. Um ein Zeichen zu setzen, sollte die EU aber nicht nur die Handelsbeziehungen zu Russland schwächen, sondern die Ukraine mit Investitionen stärken.
Was halten Sie davon, dass Gazprom in den Fussball investiert und Vereine wie Schalke finanziert und bei der Uefa als Sponsor der Champions League auftritt?
Die betreiben politische Korruption. Der Fussball ist ein Feld, wo der russische Ölkonzern eigentlich nichts zu suchen hat. Es ist wohl ein Instrument, um das Schwarzgeld zu filtern und an die entsprechenden Leute zu verteilen, die Europa etwas zu sagen haben.
Die Uefa selbst hat vor Jahren die EM in Polen und Ukraine durchgeführt. Wie sind ihre Erinnerungen an die Euro 2012?
Es war ein unglaublich schönes Fest mit Menschen aus aller Welt. So etwas hatte es bei uns noch nie gegeben. Die Euro 2012 hat dem Land neues Leben eingehaucht. Und wir haben aus dieser Zeit unheimlich viele neue Freunde gefunden. Während dem Turnier fühlte es sich wie Ferien an – ein grossartiger Anlass mit grossem Aufwand im Vorfeld.
Zu einem hohen Preis …
Die Kosten haben sich gelohnt. Nicht nur der Staat, auch private Organisationen haben investiert und Hotels und Restaurants gebaut. Nebst den neuen Stadien wurde auch die Infrastruktur erheblich verbessert. Die Strassen wurden modernisiert, der öffentliche Verkehr aufgewertet und sogar neue Flughäfen gebaut, wie zum Beispiel in Donezk. Leider wurde das ganze Gebiet von den russischen Terroristen zerstört. Auch das Stadion von Schachtar, das seither in Lemberg spielt. Das ist die traurige Seite.
Halyna Yanchenko (32) wusste schon als Teenager, dass sie ihrem Land dienen will. Während dem Soziologie-Studium an der Uni in Kiew mischt die Tochter eines IT-Spezialisten die lokale Politik auf. Der Kampf gegen die Korruption ist ihr Kredo und wird so zum Feindbild der Oligarchen. Der Eifer gegen den Filz verhilft der zweifachen Mutter zu nationaler Berühmtheit und katapultiert sie in den engsten Kreis des neu gewählten Präsidenten Wolodomir Selinski (42). Der TV-Star und Komiker spielte zuvor in der Politsatire «Diener des Volkes» einen Lehrer, der zufällig zum Präsident aufsteigt. Aus Fiktion wird Realität und die Sendung zum Namen seiner neuen Partei. Durch einen Erdrutschsieg erringt «Diener des Volkes» 2019 die Mehrheit im Parlament und Halyna Yanchenko steigt zur Vize-Fraktionschefin auf.
Halyna Yanchenko (32) wusste schon als Teenager, dass sie ihrem Land dienen will. Während dem Soziologie-Studium an der Uni in Kiew mischt die Tochter eines IT-Spezialisten die lokale Politik auf. Der Kampf gegen die Korruption ist ihr Kredo und wird so zum Feindbild der Oligarchen. Der Eifer gegen den Filz verhilft der zweifachen Mutter zu nationaler Berühmtheit und katapultiert sie in den engsten Kreis des neu gewählten Präsidenten Wolodomir Selinski (42). Der TV-Star und Komiker spielte zuvor in der Politsatire «Diener des Volkes» einen Lehrer, der zufällig zum Präsident aufsteigt. Aus Fiktion wird Realität und die Sendung zum Namen seiner neuen Partei. Durch einen Erdrutschsieg erringt «Diener des Volkes» 2019 die Mehrheit im Parlament und Halyna Yanchenko steigt zur Vize-Fraktionschefin auf.