Ist Musiala schon am Ende seiner Entwicklung?
Wie künstliche Intelligenz den Fussball revolutioniert

Jamal Musiala (20), Deutschlands Top-Juwel, stehe am Ende seiner Entwicklung. Das behauptet eine Firma, die mit künstlicher Intelligenz den Fussball verändern möchte. Was die Super-League-Klubs denken. Und ob der klassische Scout aussterben wird.
Publiziert: 11.07.2023 um 11:45 Uhr
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Aktualisiert: 13.07.2023 um 11:51 Uhr
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Für YB-Chefscout Stéphane Chapuisat ist künstliche Intelligenz noch kein Thema.
Foto: TOTO MARTI

Vielleicht ist Vincent Sierro (27) der Richtige, um den Einfluss der künstlichen Intelligenz auf den Fussball zu erklären. Weil der Ex-YB-Profi beim FC Toulouse unter Vertrag steht. Und dort Spieler in erster Linie per Algorithmus gescoutet werden.

«Bei uns basiert alles auf Daten. Nicht nur Tore und Assists, sondern profundere Statistiken. Bis zu 20 verschiedene Daten fliessen mit ein. Aufgrund dieser werden Spieler verpflichtet, die unter dem Radar laufen. Und deshalb zu einem günstigeren Preis zu haben sind, als sie es aufgrund ihrer Qualität eigentlich sein dürften», sagt Sierro. Der Erfolg gibt dem Modell der Südfranzosen recht. Als Aufsteiger holt Toulouse in diesem Jahr sensationell den französischen Cup. Den ersten Titel seit 66 Jahren.

Dank künstlicher Intelligenz? Jedes Kopfballduell, jeder Zweikampf, jede Grätsche, jeder Pass, jeder Schuss, alles, was auf dem Rasen geschieht, fliesst in die Spieler-Bewertung mit ein. Aber wie sehr ist diesen Daten zu trauen?

In einem Artikel des deutschen «Spiegel» wird Jan Wendt zitiert, der Gründer von «Plaier», einer Daten-Agentur, die dank künstlicher Intelligenz die Talentsuche revolutionieren will. Wendt sagt einen Satz, den ihm wohl so manch ein Fussballexperte um die Ohren hauen würde. «Jamal Musiala wird sich nicht mehr steigern.» Wie bitte? Einer der aufregendsten deutschen Spieler der vergangenen Jahre, ein Superdribbler, mit dem Ball am Fuss kaum zu bremsen. Stagnation! Potenzial ausgeschöpft! Eine bemerkenswerte Aussage über einen Spieler, der erst 20 Jahre alt ist. Er verstehe, dass dies skeptisch mache, sagt Wendt. Im Normalfall würden sich Talente verbessern, wenn sie Erfahrung sammeln. Sein Vertrauen in die KI könne dies aber nicht erschüttern.

KI in der Super League fast kein Thema

Im Schweizer Fussball ist die KI bislang noch kein grosses Thema. Stéphane Chapuisat, der Chefscout bei YB und einer der erfolgreichsten Talententdecker der vergangenen Jahre, stellt den Menschen, den klassischen Scout, in den Mittelpunkt: «Wir fahren sehr gut damit, unseren Experten zu vertrauen und in der sportlichen Führung gemeinsam Lösungen für YB zu finden. Bis anhin haben wir auf künstliche Intelligenz verzichtet. Und es ist derzeit auch nicht geplant, KI einzusetzen. Aber was die Zukunft bringen wird, wissen wir nicht. Wir halten stets Augen und Ohren offen, um keine sinnvolle Entwicklung zu verpassen.» Es gebe im Fussball extrem viele Daten, auf die man Zugriff hätte. «Aber diese Menge kann auch zu einer Flut führen», sagt Chapuisat.

Beim FCB ist man der neuen Technologie gegenüber offener. «Moderne Hilfsmittel wie KI, Algorithmen und Datenbanken sind im Scouting-Bereich sehr präsent. Auch wir beim FC Basel arbeiten mit verschiedensten Tools, die uns in unserer Tätigkeit unterstützen», sagt Chefscout Patrick Dippel. Genauso wichtig seien aber auch die nicht direkt messbaren Faktoren. «Wie spürt und lebt der Spieler den Fussball, welches Gefühl gibt der Spieler dem Scout, der ihn beobachtet, wie passt er menschlich in die Gesamtkonstellation, deckt sich seine Art auf dem Platz mit unserer Vorstellung von Fussball und so weiter.» Die KI könne nicht sagen, welches Gefühl, welches «Näschen» ein Spieler für gewisse Situationen hat.

Der FC St. Gallen lässt ausrichten, dass künstliche Intelligenz momentan «noch keine einschneidende Rolle» spiele. Aber man beobachte die Entwicklungen sehr genau. «Besonders interessant ist die Idee der prädiktiven Analyse, bei der die Leistung eines Spielers im Voraus auf der Grundlage seiner Position, der Anzahl Spiele, die er spielen würde, oder auch des Systems bewertet wird. Unabhängig davon, wird der Scout für uns immer das wichtigste Instrument bleiben», so der FCSG.

Beim FCZ wird das Thema ebenfalls stiefmütterlich behandelt. «KI ist beim FCZ im Scouting momentan nicht wirklich ein Thema. Es gibt bereits viele datenbasierte Hilfsmittel, die wir nutzen. Zudem ist der persönliche Eindruck nicht zu ersetzen. Ein mögliches Einsatzgebiet in Zukunft könnte hingegen aber sein, dass die Entwicklung des Fussballs von KI prognostiziert wird und man so Schlüsse daraus ziehen könnte, welche Spielertypen in einigen Jahren gefragt sein könnten», sagt Thomas Bickel, der Scouting-Chef der Zürcher.

Beim FCL wird ebenfalls auf KI verzichtet, auch beim FC Lugano ist die Technologie kein Thema. Weil man mit Menschen zu tun habe, wie Sportchef Carlos Da Silva sagt: «Wie verhält sich ein Spieler auf dem Platz, im Training? Was hat er für einen Charakter? Passt er ins Gefüge? Zum Verein? Das sind die Fragen, die wir uns stellen müssen. Nur weil die KI dir sagt, dass der Spieler ein guter Dribbler ist, muss das noch lange nicht heissen, dass er sich mit den Werten des Klubs identifizieren wird.»

SFV zu KI

Auf Anfrage erklärt der Schweizer Fussballverband SFV, man habe sich ebenfalls schon mit dem Thema KI auseinandergesetzt. Man beobachte die Entwicklung mit Interesse, meint aber auch: «Es ist nicht davon auszugehen, dass die Spielerentwicklung und das Scouting anhand der KI grundlegend verändert werden. Vorstellbar wäre aber zum Beispiel, dass man künftig die KI im Bereich Spielanalyse oder Talentmanagement einsetzen könnte, um anhand der Zusatzinformationen gewisse Muster zu erkennen oder die individuelle Entwicklung der Spieler zu optimieren. Klar ist aber auch, dass in Zukunft der Mensch weiterhin im Mittelpunkt stehen wird.»

Auf Anfrage erklärt der Schweizer Fussballverband SFV, man habe sich ebenfalls schon mit dem Thema KI auseinandergesetzt. Man beobachte die Entwicklung mit Interesse, meint aber auch: «Es ist nicht davon auszugehen, dass die Spielerentwicklung und das Scouting anhand der KI grundlegend verändert werden. Vorstellbar wäre aber zum Beispiel, dass man künftig die KI im Bereich Spielanalyse oder Talentmanagement einsetzen könnte, um anhand der Zusatzinformationen gewisse Muster zu erkennen oder die individuelle Entwicklung der Spieler zu optimieren. Klar ist aber auch, dass in Zukunft der Mensch weiterhin im Mittelpunkt stehen wird.»

Winterthurs Sportchef Oliver Kaiser sagt, dass man in erster Linie versuche, auf dem heimischen Markt aktiv zu sein. Und dort brauche es keine künstliche Intelligenz. Weil man die Charaktere, die Menschen, die Spieler kenne. Auch bei GC ist KI kein Thema. «Wir nutzen die gängigen Scouting-Tools, unter anderem Wyscout», lässt der Rekordmeister ausrichten. Servette will sich nicht zum Thema äussern. Lausanne-Ouchy und Yverdon beantworten die Anfragen nicht.

Innovativer gibt man sich bei Lausanne. Dort werde der «klassische Scout» zwar nicht verschwinden, gleichwohl aber greife man bereits auf künstliche Intelligenz zurück. Besitzer Ineos habe in Zusammenarbeit mit Lausannes Partnerklub Nizza eine entsprechende Plattform entwickelt. Am Ende müsse aber jeder Klub für sich entscheiden, was das Beste sei. Wichtig sei, dass man eine Strategie habe.

Auch Sierro glaubt an den klassischen Scout

Eine wie in der Super League, wo der Fokus noch auf klassischen Scouts liegt. Oder eine wie beim FC Toulouse. Dort werden die Stellen der Scouts gestrichen und immer mehr Geld in künstliche Intelligenz investiert. Und dort wurde am Ende der letzten Saison jener Trainer entlassen, der sensationell den Cup geholt hat. Weil der Daten-Algorithmus ergeben hat, dass man in der Meisterschaft unter die besten zehn Mannschaften hätte kommen sollen. Am Ende aber nur auf dem 13. Platz landete. Cupsieg hin. Europa-League-Quali her.

Über die Gründe der Trainerentlassung möchte Toulouse-Profi Sierro nicht sprechen. Dass KI im Fussball eine Zukunft haben wird, sei klar. Dass man auf den klassischen Scout verzichten kann, daran glaubt Sierro aber nicht. «Am Ende braucht man das Auge von jemandem, der den Fussball kennt.»

Damien Comolli, der datenverrückte Toulouse-Präsident, vereint beides. Weil er bei Monaco und Arsenal unter Arsène Wenger gearbeitet hat. Und später unter anderem Sportdirektor bei Liverpool und Tottenham war. An jenen Orten wird seit längerem auf künstliche Intelligenz bei der Spielersuche zurückgegriffen. Ob auch die Super League bald nachziehen wird? Bestimmt, alles nur eine Frage der Zeit.

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