René Weiler ist kein Mann, den man in eine Schublade stecken kann. Er ist schon als Spieler reflektiert, eigenwillig und immer schon etwas distanziert in seinem Verhältnis zum überhitzten Fussballgeschäft. Verletzungen haben eine grössere Karriere verhindert. Es bleibt für ihn bei einem einzigen Länderspiel. 1997 wird er in Hongkong von Naticoach Rolf Fringer für Murat Yakin eingewechselt.
Jetzt, mit 48 Jahren, schaut Weiler bereits auf eine lange Trainerkarriere zurück. Winterthur, St. Gallen, Schaffhausen, Aarau und Luzern sind seine Stationen in der Schweiz. Er arbeitet erfolgreich in Nürnberg, wird später Meister mit Anderlecht in Belgien und führt auch Al Ahly in Ägypten zum Titel.
Japan statt USA
Seit einigen Wochen lebt er nun in der japanischen Küstenstadt Kashima am Pazifischen Ozean. Er ist Trainer bei den Kashima Antlers, dem Rekordmeister der japanischen J-League. Im Winter lag ein unterschriftsreifes Angebot eines ambitionierten Klubs aus der amerikanischen Major League Soccer vor. Dann kam die Anfrage aus Japan und nach einigen Online-Meetings war für Weiler klar: «Das will ich machen.» Seine direkteste Beziehung zu Japan ist bis anhin einzig der Umstand, dass seine Frau einst Judoka gewesen ist.
Aber seine Trainerkarriere ist für Weiler längst mehr als Broterwerb. Es ist eine multikulturelle Entdeckungsreise rund um den Globus, nicht nur in die Welt des Fussballs. «Ich will mich entwickeln, will Neues lernen und andere Kulturen und andere Menschen kennenlernen. Eine Trainerkarriere kann man nicht nur über Titelgewinne und über das Bankkonto definieren», sagt Weiler. Jetzt schreibt er sein neustes Kapitel in Japan.
Und staunt und lernt jeden Tag. Über die tolle Infrastruktur des Klubs, die dem Standard der Bundesliga entspricht. Über die spürbare und wohltuende Freundlichkeit im Land des Lächelns. «Das ist kein Klischee. Ich bin hier toll aufgenommen worden. Ich mag die Art der Leute. Und das Essen ist köstlich.»
Es gibt keine Fangewalt
Was ihm besonders imponiert ist der respektvolle Umgang, die vornehme, fast etwas demütige Zurückhaltung der Japaner. «Das ist auch bei den Spielern, den Funktionären und den Fans so. «Gehässigkeiten auf dem Feld, Beleidigungen von Funktionären oder Fangewalt, das alles habe ich hier noch nicht erlebt. Es gibt rund um die Spiele kaum Polizeipräsenz.»
Das ist für ihn besonders wohltuend, weil er bei seinem Engagement in Ägypten bei Al Ahly genau das Gegenteil erlebt hat. Der Fussballfanatismus mit einer riesigen Begeisterung, aber auch mit all seinen hässlichen Facetten hat ihn im Spätherbst 2020 bewogen, die hektische Millionenmetropole Kairo Hals über Kopf zu verlassen. In Kashima kann er sich wieder frei bewegen, die idyllische Kleinstadt mit 67'000 Einwohnern bietet Ruhe. «In einer Stunde bin ich in Tokio, wenn ich mehr Betrieb will», sagt Weiler.
Kashima hat eine grosse Fussballtradition. Die Antlers (Hirschgeweih) sind mit acht Titeln der Rekordmeister seit der Lancierung der J-League im Jahr 1993. Aber seit sechs Jahren hat das Team keinen Pokal mehr in die Höhe gestemmt. Obwohl es in Japan drei bis vier Mannschaften gibt, die finanziell die deutlich besseren Möglichkeiten haben, sind die Ansprüche und Hoffnungen gegenüber Weiler, dem ersten europäischen Trainer der Klubgeschichte, hoch. Bis jetzt läuft es gut. Die Antlers sind in der Tabelle auf Platz 2, nach Verlustpunkten sind sie gar Tabellenführer.
Den Kern der Mannschaft bilden japanische Spieler, dazu sind fünf Brasilianer im Kader. Die Gallionsfigur des Klubs ist die brasilianische Legende Zico (69). Zico hat seine Spielerkarriere 1994 bei den Antlers beendet. Und ist seit einigen Jahren technischer Berater des Klubs. Mit an seiner Seite hat Weiler auch zwei Assistenten, die er aus der Schweiz mitgebracht hat. «Aber auch der ganze Rest des Personals hier ist extrem professionell. Hier fehlt es an gar nichts.»
Besser als die Super League
Auch das Niveau der J-League ist gut. Weiler hat sich jüngst mit dem Ex-FCZler Benjamin Kololli darüber unterhalten. Kololli spielt seit dem letzten Sommer beim Klub Shimizu. Und nach dem Direktduell gegen die Antlers trifft er sich mit Weiler. Für beide ist klar: Das Niveau der japanischen Liga ist höher als in der Super League. Es wird ein technisch starker und schneller Fussball gespielt. Geprägt auch von den vielen brasilianischen Trainern und Spielern.
Sportlich ist Weiler schon wieder auf Erfolgskurs. Privat ist er erneut tausende Kilometer getrennt von der Familie, die demnächst auf Besuch kommt. Seine Wohnung lieg rund zwei Kilometer von der pazifischen Küste entfernt. «Ich wollte nicht direkt am Meer wohnen. Erdeben- und Tsunamiwarnungen gibt es hier regelmässig», sagt Weiler.
Gespräch mit Thomas Bickel
Und die erste kräftige Erschütterung hat er auch bereits erlebt. Vor einigen Wochen hat die Erde gebebt. «Es ist schon beängstigend, wenn man erstmals schaukelnde Häuser sieht.» Weiler hat jedenfalls die Empfehlungen befolgt und sich unter den robusten Stubentisch gesetzt. Aber auch darauf war er vorbereitet. Vor seiner Reise nach Japan hat er sich ausführlich mit Thomas Bickel unterhalten. Bickel hat einst für Vissel Kobe gespielt. In einer Stadt, die 1995 von einem fürchterlichen Erdbeben erschüttert wurde.