Lilly Baumann erfährt am Donnerstagabend im TV vor dem Zu-Bett-Gehen von Pelés Tod. «In diesem Augenblick sind all die unglaublichen Erinnerungen wieder hochgekommen. Ich hatte Tränchen in den Augen», sagt sie zu Blick. Erinnerungen an den Sommer 1968, als Pelé aus dem Teamhotel der Brasilianer ausgebüxt ist, um bei ihr und ihrem Mann Werner zu Hause in Horgen bis in die Morgenstunden zu feiern.
Dieses wahre Fussballmärchen publizierte Blick erstmals im Oktober 2020 anlässlich des 80. Geburtstags des brasilianischen Superstars.
In der Schweiz ist Fussballer Pelé als Fussballer ebenfalls in Aktion zu sehen. «O Rei» (der König) spielt mit dem FC Santos am 15. Juni 1968 im Letzigrund gegen den FC Zürich. Der FCZ um Köbi Kuhn gewinnt sensationell 5:4. Es wird die einzige Niederlage der brasilianischen Ballzauberer auf ihrer Show-Tournee durch Europa und Nordamerika bleiben.
Der «Sport» schreibt damals: «Nach Spielschluss Run auf Pelés Leibchen, der sein Trikot mit der Nr. 10, offenbar durch Erfahrung gewitzigt, in einem wirren Knäuel von Pelé-Fans vorsichtshalber selber auszieht und den ‹Wölfen› zum Frass vor die Füsse wirft.»
Pelé ist damals zwar erst 27, aber schon zweifacher Weltmeister und bereits viel mehr als nur ein Fussballstar. Er ist der Beste der Welt. Männer wie Frauen liegen ihm zu Füssen.
Auch Werner Baumann, ein Amateurfussballer aus Horgen, will den Ballkünstler live im Letzigrund bewundern. Doch kaum im Auto, wendet er. «Es hat wie aus Kübeln geschüttet. Autofahren war kaum möglich», erinnert sich Werni.
Drink an der Bar mit Pelé
Stattdessen geht er mit seiner Frau Lilly an die Bar des Hotels Meierhof in Horgen. Hier logiert der FC Santos. Die Baumanns hoffen, dass die brasilianischen Fussballer nach dem Spiel noch auf einen Schlummertrunk vorbeischauen werden.
Sie wissen, dass die Brasilianer, allen voran der charmante Pelé, den Kontakt zu den Horgnern nicht scheuen. Schon am Vorabend haben sie die Stars an der Hotelbar angetroffen und sich gut mit ihnen unterhalten. So gut, dass Pelé und sein Kumpel Orlando (ebenfalls Weltmeister von 1958) sich vor dem Testspiel mit Lilly und einer Kollegin sogar zu einem kleinen Rundgang durch Horgen verabredet haben.
Und wirklich: Pelé & Co. schauen nach dem 4:5 nicht nur vorbei, sie kommen gar zu Lilly und Werni an den Tisch. Man trinkt, redet und lacht. «Wir hatten es richtig gemütlich und lustig», sagt Werni.
Lilly, noch der grössere Pelé-Fan als ihr Werni, erinnert sich, als wäre es gestern gewesen. «Da war auch so ein kleiner, dicker Betreuer mit einem Gurt voller kleiner Fläschli dabei, er hat den Spielern immer wieder eines zum Trinken gegeben hat. Was da drin war, weiss ich nicht.» Werner lacht und meint: «Sicher nur Mineralwasser...»
«Wir haben Schnaps und sehr viel Bier getrunken»
Irgendwann habe dieser Betreuer auf Spielverderber gemacht und die Fussballstars auf ihre Zimmer geschickt, erzählen die Baumanns und lachen. Was der kleine Dicke nicht weiss ist, dass Lilly, Werni und Pelé längst beschlossen haben, dass dieser gesellige Abend nicht so schnell enden sollte. «Das Hotel hatte zwei Aufzüge. Pelé, Orlando und zwei junge Santos-Spieler, deren Namen ich nicht mehr weiss, sind daraufhin mit einem Lift hoch- und mit dem anderen Lift direkt wieder runtergefahren. Dann ging es subito raus aus dem Hotel, ab in unser Auto und zu uns heim», sagt Lilly.
Da wird es dann richtig spassig! Die geselligen Lilly und Werni, in Horgen nicht zuletzt auch wegen ihrer gut gefüllten Hausbar bekannt, sind gute Gastgeber. Den Alkohol-Schrank, aus dem sich auch Pelé bedient hat, besitzen sie heute noch. Der weltberühmte Gast sei kein Kostverächter gewesen, sagt Werni. «Mineralwasser gabs nicht. Wir haben Schnaps und sehr viel Bier getrunken.»
Als plötzlich mitten in der Nacht das Bier ausgeht, klingeln die Baumanns kurzerhand bei ihrem italienischen Nachbarn. Sie fragen nach Nachschub und entschuldigen sich für den Lärm. «Als ich ihm sagte, dass wir Pelé auf Besuch haben, meinte er: «Ich habe einen Harass Bier und der Lärm stört mich nicht. Aber du musst sicher nicht lügen», erzählt Lilly.
Nachbarn kommen vorbei
Logisch bringt der Nachbar das Bier dennoch eigenhändig vorbei und logisch feiert er dann auch gleich mit. Schnapsflaschen und Zigarren machen in der lustigen Runde die Runde. Lilly: «Wir haben eine Flasche Aronen-Schnaps herumgereicht und immer wieder abgeklatscht. Und die Zigarren haben wir immer wieder in Cognac getunkt. Es war wirklich eine strube Nacht. Wir waren noch jung und liebten es, zu feiern.» Wobei auf ein Gläschen seien sie auch heute noch gerne zu haben, sagt Lilly und prostet mit ihrem Mann auf Pelés 80. Geburtstag an.
Wann und wie die zwei jüngeren Brasilianer damals zurück ins Hotel gegangen sind, wissen die Baumanns nicht mehr. Pelé und Orlando bleiben sitzen bis 6.30 Uhr morgens. Dann fahren Lilly und Werni die Superstars zurück zum Hotel an den Zürichsee. Durften Sie überhaupt fahren? Werni schmunzelt und meint: «Na ja, das waren andere Zeiten damals.»
Im Meierhof werden Pelé und Orlando längst vermisst – der Bus zum Flughafen Kloten ist bereits abfahrbereit. «Pelé war ein richtig Armer, hatte nicht mal Zeit fürs Morgenessen», sagt Lilly, «er bekam einen Rüffel, konnte sich noch schnell umziehen und packen. Dann stieg er in den Bus.» Die verräterisch kleinen Augen nach der durchgezechten Nacht versteckt Pelé dabei hinter einer dicken, schwarzen Sonnenbrille. Lilly macht noch schnell ein Erinnerungsfoto. Und weg ist der beste Fussballer der Welt.
Unvergesslicher Abend
Lilly und Werni haben den Abend nie vergessen. Pelé anscheinend aber auch nicht. Als er, mittlerweile längst zurückgetreten, irgendwann in den 90er-Jahren im Jelmoli in Zürich eine Autogrammstunde gibt, kann es Lilly nicht lassen und geht vorbei. «Als ich ihm die Fotos von damals gezeigt habe, flippte Pelé fast aus vor Freude. Er hat sich so gefreut, mich zu sehen. Nach dem Anlass sind wir dann noch zusammen in der Kronenhalle-Bar etwas trinken gegangen.»
Auf dem Foto sieht man, wie vertraut sie dabei bei Pelé einhakt. Werni ist nicht dabei. Er muss arbeiten. War er eigentlich nie eifersüchtig auf Pelé? «Nein, nein. Nie», sagt er. Lilly meint augenzwinkernd: «Da hatte er auch keinen Grund dazu. Ich denke, wäre ein weiblicher Superstar wie Liz Taylor bei uns zu Hause gewesen, Werni hätte auch nicht aufgehört, von ihr zu schwärmen.»
Andere Fans prügeln sich an diesem Samstagabend im Juni 1968 um das Pelé-Leibchen im Letzigrund. Lilly und Werni dagegen bechern Stunden später mit dem Superstar bis in den Morgen. Die beiden sind sich einig: «Heutzutage würde so etwas nicht mehr gehen. Die Stars werden derart abgeschottet, sie können gar nicht mehr normal sein.» Pelé sei es gewesen. Lilly: «Er war so nett, so umgänglich. Er interessierte sich auch für uns und unser Leben.»