Wenn einem der Allmächtige begegnet, vergisst man diesen Tag für den Rest seines Lebens nicht. Am 1. Juni 1978 ist er mir widerfahren, im River-Plate-Stadion in Buenos Aires, bei Halbzeit. Die deutschen Titelverteidiger waren gerade dabei, die WM mit einem grauenhaften 0:0 gegen Polen zu eröffnen, und nach dem Pausentee im Pressezentrum stieg ich in den Aufzug zurück zur Tribüne – da griff von aussen noch blitzschnell eine Hand in die Tür, und der dazugehörige Mensch sagte: «Darf ich auch mit?»
Es war der Herrgott himself. O Rei, der König des Fussballs. Als junger Reporter fällt einem in einem solchen Moment nichts mehr ein, man ist ob der Strahlkraft der Leuchtgestalt von den Füssen aufwärts gelähmt, aber immerhin ist mir das kürzeste Interview meines Lebens gelungen.
«Gefällt Ihnen das Spiel?», fragte ich. «Naja», sagte Pelé. Während ich krampfhaft nach einer weiteren Frage suchte, ging Gott sei Dank der Aufzug wieder auf, und der König des Fussballs entschwand auf die VIP-Tribüne.
Viele Junge kennen nur Messi und Ronaldo
Ehrfurcht ist gar kein Wort für das, was mir damals durch Kopf und Glieder schoss. Aber ist vor ein paar Tagen nicht sogar der letzte Kaiser vor dem König aufs Knie gegangen? «Für mich», schrieb Franz Beckenbauer in einem offenen Gratulationsbrief an den Brasilianer, «warst und bis du der grösste Fussballer aller Zeiten.»
Pelé ist am Freitag 80 geworden. Das ist ein gefährliches Alter, denn eine 80-jährige Legende ist für viele Junge in diesen hastigen Zeiten eine Leiche, sie kennen nur Messi und Ronaldo, oder allenfalls noch Maradona. Pelé zählt nur noch für die Alten und Verstorbenen unter uns, schon Muhammad Ali musste am Ende von Norman Mailer («Die Nackten und die Toten») in Erinnerung gehalten werden mit dem Satz: «Der Weltmeister im Schwergewicht ist der grosse Zeh Gottes» Der andere grosse Zeh war Pelé, und welches Gefühl in dem steckte, lässt sich wenigstens schemenhaft noch beweisen, ein Klick genügt.
Solche Video-Fundgruben verhindern, dass die Akrobatenstücke, die Pelé der Welt vorgeführt hat, nicht plattgewalzt werden vom Rad der Vergänglichkeit. Acht Sekunden dauern die Flackerbilder dieses 17-jährigen Wunderknaben im WM-Final 1958: Der Ball fliegt in den Strafraum, der Zauberknabe lässt ihn von der Brust abtropfen, schlängelt sich wie ein Aal am tapsigen Schweden Parling vorbei, jongliert ihn dem langen Gustavsson über den Scheitel, Schuss und Tor. Von da an war Fussball mehr als ein Spiel im Gras.
Alle Buben wollten auf dem Bolzplatz Pele sein
Fussball, das war fortan Pele. Nach dem Abpfiff hat die «Pérola Negra», die schwarze Perle, damals an der Brust seines Torwarts Gylmar Rotz und Wasser geheult – doch reden wir nicht von Peles Gefühlen, sondern von unseren. Auch wir waren Kinder, und wir haben diesen Zauberer genossen, denn die Bilder im Fernsehen lernten gerade das Laufen und wir kamen in den Genuss des achten Weltwunders: Pele.
In einer verstaubten Chronik ist die Magie folgendermassen überliefert: «Fussball wie Jazzmusik, aber ohne Noten, nur nach dem Ohr, mit dem Herz, dem Gefühl – die Zuschauer sperrten Mund und Augen auf.» Garrincha (der Dribbler) und Didi (der Denker) waren die ersten Fernsehstars des Fussballs, doch die Krönung der brasilianischen Hexerei war Pelé. Der Strafraum war seine Varietebühne, der Ball klebte ihm am Schienbein und an den Sohlen, nie sprang er ihm vom Fuss, diesem Zauberknaben mit der Schuhgrösse 38. Das waren die Latschen eines grossen Kindes, und so spielte er auch – aus dem Bauch heraus.
«Sogar der Ball bat Pelé um ein Autogramm», hat ein Radioreporter in jener glorreichen Zeit behauptet, und wir Buben in aller Welt wollten auf dem Bolzplatz Pelé sein: Seinen Namen – Edson Arantes do Nascimento – liessen wir uns fehlerlos vorwärts und rückwärts auf der Zunge zergehen, und unsere Mütter mussten uns eine «10» aufs Turnleibchen nähen, spätestens nach der Nummer mit Parling und Gustavsson.
Sein hinreissender Ballzauber ist ästhetischer Genuss
Ein Kind vergisst nichts. Und gekrönt wurde das Glück des ehemaligen Buben hier durch seinen fussballverrückten Onkel Jakob, der ihn zu besonderen Spielen ins Stuttgarter Stadion mitnahm. Zur Einstimmung auf die nahende Bundesliga lud der VfB beispielsweise im Juni 1963 den FC Santos ein, und ausser dem Endstand (1:3) habe ich eine Szene unauslöschlich im Hinterkopf: Pele holte einen Elfmeter heraus, der heute keinem Videobeweis standhalten würde.
Vorbei. Verjährt. Was bei Pelé zählt, ist das grosse Ganze, also der ästhetische Genuss seines hinreissenden Ballzaubers und seine unfassbaren 1284 Tore. 1970 wurde er zum dritten Mal Weltmeister, er zeigte nochmal die virtuosesten Tricks und traf mit links, rechts und per Kopf. Er war Spielmacher und Sturmspitze und so vollkommen, dass Beckenbauer ihm in Erinnerung an die gemeinsamen Jahre bei Cosmos New York dieser Tage schrieb: «Du bist im vollen Tempo auf drei oder vier Gegenspieler los und hast sie wie ein Panther ausgetrickst. So etwas habe ich weder vorher noch nachher bei einem Fussballer gesehen.»
Im Leben danach, sagen Pelés Kritiker, war er nur noch halb so gut. Romario, ein späterer brasilianischer WM-Held, hat sogar gespottet: «Solange Pelé schweigt, ist er ein Poet.» Seither lässt Pelé nur noch die Füsse sprechen, vor Torwänden, oder an Kindergeburtstagen. Mit den Füssen war er ein Gedicht.
War er der Beste?
Er selbst hat das nie behauptet. Den Vergleich mit Maradona und Messi hat Pelé in seiner Geschmeidigkeit stets virtuos umdribbelt und lieber gesagt: «Michelangelo hat gemalt, Beethoven Klavier gespielt – und ich Fussball.»