Keine Woche ohne VAR-Ärger: Als Basel-Captain Fabian Frei in der Nachspielzeit gegen Servette den Ball mit dem Oberarm berührt, gibt Schiri Sandro Schärer Penalty nach dem Video-Studium. Die Genfer verwandeln, 2:2. «Korrekter Entscheid», gab Schiri-Boss Daniel Wermelinger zu Protokoll.
«Falscher Pfiff», sagt Urs Meier. Und spricht damit aus, wofür er nun als Blick-Experte stehen will: «Klare Aussagen und fachliche Einordnung.» Er wird strittige Szenen in Zukunft im Blick analysieren.
Die grösste Legende
Urs Meier gilt neben Massimo Busacca, der heute die Unparteiischen bei der Fifa anführt, als mit Abstand bester Schweizer Schiedsrichter der Neuzeit. Der Aargauer leitete mit 18 sein erstes Spiel, pfiff ab 1991 in der damaligen Nationalliga A, wurde 1994 Fifa-Schiedsrichter.
Bei der WM 1998 pfiff er das brisante Vorrundenspiel zwischen den USA und Iran sowie den Achtelfinal zwischen Dänemark und Nigeria. 2002 war es sogar der Halbfinal zwischen Südkorea und Deutschland, in jenem Jahr pfiff er auch den Champions-League-Final zwischen Real Madrid und Leverkusen (2:1).
Es war die Krönung, nachdem er zuvor fünfmal hintereinander einen Halbfinal der Königsklasse geleitet hatte. 2004 trat er altersbedingt nach 883 Spielen zurück.
Zwischen Ende 2007 bis Juni 2011 war er Chef der Schweizer Schiedsrichter – und ab 2005 parallel dazu beim ZDF als Experte tätigt. 2006 erhielt er mit Johannes B. Kerner und Jürgen Klopp, mit denen er auftrat, den den Deutschen Fernsehpreis für die beste Sportsendung. Bis 2018 blieb er beim ZDF. Heute seziert er bei Blue Sport heikle Szenen in der Champions League und nun schaut er im Blick in der Super League ganz genau hin.
16'000 Morddrohungen
Meier kennt dabei alles an Drucksituation, die auf einen Schiri zukommen. Es ist die EM 2004 in Portugal, als er zum Hassobjekt der englischen Fans wird. Meier annulliert im EM-Viertelfinal in der 89. Minute den vermeintlichen Siegestreffer Englands gegen Portugal – die Three Lions scheiden danach im Elfmeterschiessen aus.
Meier hatte dabei die Szene gar nicht richtig gesehen. «Ich spürte aber, dass das Bild von der ganzen Situation nicht stimmig war. Der Arm des Goalies war nicht dort, wo er eigentlich hätte sein sollen. Mein Bauch sagte deshalb sofort: Foul! Das war der Grund, warum ich gepfiffen hatte.»
Die TV-Bilder geben Meier recht. Trotzdem kommt der englische Trainer Sven-Göran Eriksson auf ihn zu: «Er sagte: «Ich habe die Szene im TV gesehen. Es war ein Fehlentscheid. Sie haben jetzt noch zweimal 15 Minuten Zeit, das wiedergutzumachen.»»
Nun, Meier ist der Meinung alles richtig gemacht zu haben und nun den EM-Final zu bekommen. Es kommt anders. Als er am nächsten Morgen aufsteht, hat er 16'000 neue Mails im Posteingang. «Eigentlich 16'000 Morddrohungen», sagt er. Dann schaut er die Homepage von «The Sun» an. «Dort stand gross «Swiss banker!», was ich nicht so richtig verstand. Also fragte ich meinen englischen Schiedsrichter-Kollegen. Der meinte, es gäbe drei verschiedene Bedeutungen. Erstens: ein seriöser Banker. Zweitens: einer, der Geld nimmt. Und drittens: «Swiss wanker», auf Deutsch Schweizer W***ser.»
Polizeischutz
Gerade das 10-Millionen-Leser Blatt «The Sun» orchestriert die Hasstiraden, auch seriöse Zeitungen wie «The Independent» bezeichnen ihn als «Staatsfeind Nummer 1». «Cheated by an Urs hole» («Beschissen von einem Arschloch») titelt der «Daily Star».
«The Sun» verbrennt Kuckucksuhren, «um Meier einzuheizen», und vergisst dabei, dass diese aus Deutschland, aus dem Schwarzwald, stammen. Sie ruft dazu auf, Schweizer Produkte wie Fondue-Sets, Emmentaler Käse, Swatch-Uhren, Alphörner, Schokolade oder Taschenmesser wegzuschmeissen oder zu boykottieren.
Sieben englische Reporter reisen nach Würenlos AG, belagern sein Geschäft und die Familie. Seinem Sohn wird auf dem Schulweg aufgelauert, «ihm wurden Tickets angeboten, dass er über mich redet», so Meier. Der Höhepunkt: Die Zeitung zitiert seine Ex-Frau: «Urs hat mich betrogen und, wie es aussieht, auch England.»
Meiers Ex-Frau hat gar nicht mit der Zeitung geredet. Dennoch wird der Schiri von der Uefa nach Hause geschickt. Die Polizei in der Schweiz sagt ihm, er solle besser in Portugal bleiben. «Man könne in der Schweiz nicht für meine Sicherheit garantieren.»
Meier wird von der Polizei am Flughafen Zürich abgeholt, fährt von der Tiefgarage weg, taucht etwa sieben Tage in den Bergen unter. Nicht mal seiner Familie sagt er, wo er sich befindet.
Ein paar Wochen später kehrt er in sein normales Leben zurück. «Aber ich reiste acht Jahre lang nicht mehr nach England. Und wenn ich im Ausland war und hinter mir einer Englisch sprach, zuckte ich zusammen.»
Die positive Kehrseite
Er sagt aber auch: «Man muss ehrlich sein: Wegen jener Szene wurde ich berühmt. Kann heute Vorträge halten und als Experte arbeiten, wie nun für den Blick. Ich habe viel gelitten – aber die Szene hat mir auch viel gebracht.»