Esther Staubli (43) ist im wahrsten Sinn des Wortes ein Fussball-Nerd. «Ich schaue mir unheimlich gern Fussball an.» Zu Hause in ihrer Wohnung hat sie einen grossen Screen, über den praktisch jeden Abend ein runder Ball flimmert. Aus ganz Europa verfolgt Staubli Spiele, unter anderen auch aus der 2. spanischen Liga. Vor kurzem sah sie sich das Stadtderby von Buenos Aires zwischen den Boca Juniors und River Plate an. «Es ist spannend, auch einmal die fussballkulturellen Unterschiede zu sehen.»
Schon als kleines Mädchen entdeckt Staubli die Liebe zum Fussball. Während andere sich Puppen wünschen, wünscht sie sich als Fünfjährige von ihrer Gotte einen Ball. Der Wunsch wird ihr erfüllt, worauf die Apfelbäume im Garten ihrer Eltern fortan nicht mehr sicher sind. «Die Gravensteiner waren meinem Vater heilig», sagt Staubli mit einem Lachen. «Aber zwischendurch ‹räblete› es, und die Äpfel kamen herunter.»
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Die Apfelbäume sorgen viele Jahre später erneut für ein prägendes Erlebnis. 2013 fällt Staubli bei Holzarbeiten rund um das Elternhaus von der Leiter. Sie hat Glück im Unglück, fällt sie doch aus zehn Metern Höhe auf einen Abgang und kommt mit einem gebrochenen Wirbel davon. «Der erste Gedanke in diesem Moment war, ob ich meine Beine noch bewegen kann.» Kann sie. «Seither habe ich ein zweites Leben.»
Einzige Frau in der Super League
Staublis Kindheit ist vom Leben auf dem Land geprägt. Ihr erstes Fussball-WM-Erlebnis hat sie an der WM 1990, als sie bei den Nachbarn den Final zwischen Argentinien und Deutschland schauen darf. Einen Fernseher gibt es bei den Staublis nicht. «Wenn Ski-WM war, hat meine Mutter einen gemietet.» Einem FC tritt Staubli erst nach Abschluss der obligatorischen Schulzeit bei. Bei Rot-Schwarz Thun spielt sie in der Nationalliga A. Besonders talentiert ist sie nicht. «Ich kam eher über die Physis und spürte rasch, wo meine Limits sind.»
2000 absolviert sie ihren ersten Schiedsrichter-Kurs. Es ist Liebe auf den ersten Blick und bis heute ein «hönne Spass», wie Staubli sagt. 2013 pfeift sie ihre erste EM, zwei Jahre später den Champions-League-Final und ihre erste WM. 2017 leitet sie den EM-Final zwischen Holland und Dänemark, weitere grosse Spiele kommen dazu. Im Herbst 2021 pfeift sie ihr erstes Spiel in der Super League der Männer – als erste Frau nach 13 Jahren.
Ob Männer oder Frau auf dem Platz stehen, macht für Staubli keinen Unterschied. Für sie, die 15 Stunden pro Woche trainiert, sind es 22 verschiedene Individuen. «Wichtig ist, dass du empathisch und für die Spieler oder Spielerinnen lesbar und klar bist. Sie müssen verstehen, wo die Limits sind.» Eine weitere wichtige Tugend sei, nicht nachtragend zu sein. Jeder habe immer wieder eine neue Chance verdient. Sie selber analysiert jede Partie, «mein Anspruch ist es, von Spiel zu Spiel besser zu werden». Auf Diskussionen um die Regeln lässt sie sich nicht ein, diese müssten andere Leute beantworten.
Pendeln zwischen den Welten
Der Fussball ist nur ein Teil des Beruflebens von Esther Staubli. Steht sie nicht auf dem Platz, unterrichtet die Agronomin in einem kleinen Pensum am Inforama in Zollikofen angehende Landwirte im Bereich Tierhaltung, vor allem von Kühen. Sie selbst wächst in Hilterfingen am Thunersee auf, umgeben von vielen Tieren. Als Teenager bricht sie das Gymnasium nach drei Jahren zum Ärger der Eltern ab und macht eine Lehre als Landwirtin. «Es ist einer der schönsten Berufe, den es gibt. Ich habe meine Berufswahl nie bereut», sagt Staubli. Heute gibt sie ihr Wissen weiter.
Sowohl als Ausbilderin als auch im Privatleben macht sie um ihren Job als Schiedsrichterin kein grosses Tamtam. Auch deswegen steht sie nicht gern in der Öffentlichkeit, sondern viel lieber auf dem Platz. An der EM vor einem Jahr in England schreibt ihr ein ehemaliger Schüler, dass er sie im Fernsehen gesehen habe. «Ich sage an der Schule immer nur, ich hätte noch einen zweiten Beruf und mache Sport.» Ihre Welten hält sie strikt getrennt, privat geht Staubli gern einmal in die Oper, hört klassische Musik oder holzt. Vor kurzem hat sie einen Camper gekauft.
Wie lange sie noch pfeifen will, weiss Staubli nicht. Es ist der falsche Zeitpunkt für eine Auslegeordnung. Ihr Fokus gilt der WM. Der Final in Sydney als grosses Karriereziel? Nicht für Staubli. «Es sind nicht immer der Final oder die schwierigste Partie mit den meisten Zuschauern im grössten Stadion das, was zählt. Am schönsten sind gemeinsame Erlebnisse mit meinen Assistentinnen und Momente, die mein Herz füllen.» Als jüngstes Beispiel nennt sie eine Partie im Frühjahr im Camp Nou in Barcelona.
Nun ist Staubli mit ihrer Assistentin Susanne Küng (35) im Schiedsrichter-Camp in Sydney. Bereits 2010 während einer persönlichen Auszeit hatte sie Australien bereist. «Etwas vom Besten, was ich je gemacht habe.» Während der Corona-Pandemie wurde sie in zwei Testspielen in Down Under als Schiedsrichterin eingesetzt – und belegte im Hotel aufgrund der Quarantäne-Vorschriften mit ihren Assistentinnen eine ganze Etage. Auch die jetzige Reise nach Australien soll prägend werden. Staublis Ziel: eine ideale Vorbereitung, ein erster Match – und Momente, die ihr Herz füllen.