BLICK: Herr Sammer, Sie waren von 2012 bis 2016 Sportvorstand beim FC Bayern und somit der Chef von Xherdan Shaqiri. Wie haben Sie ihn in Erinnerung?
Matthias Sammer: Ich halte drei Punkte bei Xherdan für wichtig. Erstens ist er ein Spieler, der für sich Ruhe braucht. Die Abläufe müssen klar sein. Zweitens muss er ein gewisses Vertrauen spüren, da hat er ganz feine Antennen. Drittens muss er sich als wichtiger Bestandteil der Gruppe und des Vereins fühlen. Als Gesamtpersönlichkeit respektiert werden. Diese Dinge muss er nun nach seiner Liverpool-Zeit wieder finden. Ich erinnere mich an viele kritische Gespräche, die sehr emotional waren.
Erzählen Sie.
Es war 2014 unter Pep Guardiola einfach so, dass er wegwollte. Unbedingt. Dass er seinen Wechsel erzwingen wollte. Und ich hatte dann die Aufgabe, mit ihm zu diskutieren. Er ist ein Heisssporn. Ich sehe das auch gar nicht negativ. Das ist Bestandteil seines Weges, seiner Persönlichkeit.
Es kursiert die Geschichte, dass sein Bruder oft bei den Bossen im Büro sass und sich beklagte. Stimmt das?
Es war damals so, dass er nach seinem Transfer den Berater wechselte. Weg vom erfahrenen Wolfgang Vöge, der gegen 60 war, hin zu jüngeren Menschen. Ob das richtig war, will ich mir nicht anmassen.
Er ging zu seinem Bruder Erdin.
Ja, das ist so. Ich finde halt grundsätzlich: Manchmal brauchst du einen Gegenpart, der dich herausfordert. Ich weiss nicht, ob ein Bruder, der das gleiche Blut hat wie du, da der richtige Ansprechpartner ist. In solch hitzigen Diskussionen brauchst du einen, der dir contra geben kann. Ich bin ein Anhänger davon, dass ein junger Spieler einen erfahrenen Mann neben sich hat. Gerade Xherdan. Für mich ist es darum kein Zufall, dass er mit den erfahrenen Trainern wie Jupp Heynckes oder Ottmar Hitzfeld gut konnte. Weil sie ihm eben diese Stabilität und Ruhe geben. Womit ich aber nicht sagen will, dass Pep Guardiola oder Jürgen Klopp schlechte Trainer wären.
Aber zwischen Pep Guardiola und ihm passte es auch menschlich nicht.
Das ist mir zu einfach mit der zwischenmenschlichen Ebene. Aber wenn ein stolzer Katalane auf einen emotionalen Schweiz-Albaner trifft, dann treffen da zwei Blutgruppen aufeinander, bei denen Explosionsgefahr entstehen kann. Das ist vollkommen normal. Und jeder Mensch reagiert sensibel auf gewisse Verhaltensweisen. Soweit ich es erlebt habe, waren Pep und Xherdan aber immer respektvoll zueinander.
Er litt bereits damals unter Muskelverletzungen, die ihn bis heute begleiten. Hatten Sie Bayern-intern eine Erklärung dafür?
Im letzten Detail kann ich das nicht beantworten, da bin ich nicht der Fachmann. Er ist ein Muskelpaket, hat starke und schnelle Muskelfasern. Bei manchen Spielern findet man die Ursache, bei anderen nicht.
Im Winter 2015 wechselte er zu Inter Mailand. Das war ein grosser Fehler, weil Ribéry und Robben danach oft verletzt fehlten.
Ja, aber das ist hypothetisch. Ich habe Xherdan als Menschen kennengelernt, der nicht von etwas abhängig sein will, was er nicht beeinflussen kann. Darum war es keine Option für ihn, zu bleiben und zu hoffen, dass einem Konkurrenten etwas passiert.
War eine Leihe wie bei David Alaba, der zu Hoffenheim ging und dann gestärkt zurückkam, auch ein Thema?
Nein. Er wollte weg und zwar sofort.
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Was fehlt ihm, dass er sich bei Bayern und jetzt auch in Liverpool nicht richtig durchsetzt?
Das ist mir zu negativ. Er hat seine wunderbaren Fähigkeiten oft genug bewiesen. Vielleicht ist es auch ein bisschen Pech, dass er nie Stammspieler war. Aber dass er bei zwei der weltbesten Klubs nicht jedes Spiel machte, dafür muss er sich nicht schämen.
In der Schweiz polarisiert Shaqiri als Figur sehr. Können Sie aus der Ferne das nachvollziehen?
Ja, das kann ich verstehen. Weil er vom Auftreten und von der Spielweise her speziell ist. Er will sich immer beweisen und ist ein emotionaler Spieler. Ich persönlich liebe so was.
Sie waren auch so als Spieler.
Manche finden das hervorragend und andere nicht. Das ist das Los emotionaler Spieler. Es ist kein schlechtes Los, es ist authentisch. Xherdan ist immer authentisch.
Sie spielten fünf Jahren lang bei Dortmund mit Stéphane Chapuisat zusammen. Wer von beiden hatte mehr Talent?
Schwierig. Chappi war ein Schlitzohr auf dem Spielfeld, der Lücken erkannte, ein Tick offensiver als Xherdan, der mehr aus der hängenden Position kommt. Der Schweizer Fussball kann sehr stolz auf beide sein. Der eine ist introvertierter, der andere extrovertierter. Ich würde beide loben wollen.
Ottmar Hitzfeld hatte einen Darmdurchbruch wegen des Drucks. War das bei Ihnen ähnlich, als Sie 2016 einen leichten Schlaganfall erlitten?
Stress hilft sicher nicht. Ich war knapp 50 Jahre alt und sagte mir: Ich durfte alles sein, Trainer, Spieler, Sportchef. Schöner gehts nicht. Ich entschied, für meine Familie und für mich zu sein. Nicht mehr in Organisationen sein zu wollen, die mir Dinge vorgeben.
Sie sind nun Berater von Borussia Dortmund. Was haben Sie da für ein Pensum?
Die Spiele schaue ich mir an, und alle zwei, drei Wochen treffen wir uns.
Über Trainer Lucien Favre reden Sie nicht öffentlich?
Nein, grundsätzlich nicht über Spieler oder Trainer von Borussia.
In eineinhalb Wochen spielt die Schweiz in Deutschland. Wie sahen Sie das Spiel vor Wochenfrist, und was erwarten Sie nun für eine Partie?
Den Schweizer Fussball schaue ich mir schon länger an und bin immer wieder erfreut, wie stark ihr als Fussballnation geworden seid. Ihr habt wunderbare Spieler. Deutschland hatte sicher nicht den stabilsten, besten Tag. Aber wie die Schweiz spielerisch aufgetreten ist, gefiel mir. Ich bin gespannt auf die zweite Partie.