Blick: Herr Babbel, herrscht nach dem furiosen Auftakt mit dem 5:1 gegen Schottland die totale Euphorie in Deutschland?
Definitiv. Auf der einen Seite, weil man sich im Vorfeld schon riesig auf diese Heim-EM gefreut hat. Auf der anderen Seite hat die überzeugende Leistung gegen Schottland für eine noch positivere Grundstimmung gesorgt.
Was hat dieses Turnier für die ganze Nation für eine Bedeutung?
Nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa hat sich nach so einem Event gesehnt, wo man in dieser wahnsinnigen Zeit, mit den vielen Krisen und Gefahrenherden, mal abschalten kann. Jeder will Spass haben, jeder will Party machen. Es ist ein grosses Miteinander. Das sieht man auch an den vielen Fan-Märschen. Jetzt hoffen wir nur, dass wir Deutschen ein bisschen länger dabei sind als bei den letzten Turnieren.
Wäre ein Halbfinal wie beim Sommermärchen 2006 schon als Erfolg zu werten?
Absolut. Wichtig ist, dass du als Fan wieder siehst, da ist eine Mannschaft, die sich zerreisst. Das haben die 2006 in einer überragenden Art und Weise hinbekommen. Individuell war es nicht die bestbesetzte Nationalmannschaft. Aber es war eine Einheit. Wenn wir das wieder hinbekommen, dann sehe ich durchaus Möglichkeiten, weit zu kommen.
Wie war das 1996, als sie den bisher letzten EM-Titel für Deutschland holten?
So ein Heim-Turnier ist nochmals was anders. Das durfte ich leider nie erleben. Wir waren aber in England, einem anderen Land, in dem Fussball gelebt wird. Ich muss aber ehrlich gestehen, dass ich relativ wenig mitbekommen habe, was um uns herum da so passiert ist. Damals gab es noch keine sozialen Medien. Entsprechend habe ich den ganzen Rummel zu Hause immer verzögert mitbekommen. Aber ich selber war in meinem Tunnel drin.
Sie sprechen die sozialen Medien an. Können die Spieler den Hype ausblenden?
Ich stelle es mir extrem schwer vor. Das ist etwas, was ich nicht ganz nachvollziehen kann, warum sich die Spieler diese Plattform geben. Du bist entweder der Held oder die absolute Pfeife. Ich würde mich gar nicht in dieses Fahrwasser begeben, um vielleicht dann doch irgendwo ein bisschen beeinflusst zu werden. Und da verstehe ich die Generation nicht.
Was würden Sie konkret dagegen tun?
Wenn ich jetzt da am Start wäre, wäre ich nicht auf Social Media. Das würde ich mir während einem solchen Turnier nicht antun. Aber die Zeit ist so, wie sie ist. Sie müssen damit klarkommen. Sie müssen wissen: «Hey, da ist eine grosse Erwartungshaltung einer Fussballnation. Wir sind Deutschland.»
Befürchten Sie, dass sich die Spieler – vor allem die Jungen – von diesem Hype abgelenkt werden?
Grosse Angst habe ich trotz allem nicht. Schliesslich ist etwa Florian Wirtz mit Bayer Doublesieger geworden und hat konstant Leistung gezeigt. Er war also scheinbar nicht sehr abgelenkt von Social Media. Jamal Musiala genauso.
Auch dank Wirtz und Musiala scheint in Deutschland plötzlich alles wieder zu funktionieren. Anders als noch vor ein paar Monaten. Was hat sich verändert?
Es sind viele neue Spieler – etwa vom VfB Stuttgart – dazugekommen, die unbekümmert, stolz und froh sind, dabei zu sein. Sie haben eine Positivität in die Nationalmannschaft mitgebracht, die sie sich aus den Vereinen erarbeitet haben. Ich habe das Gefühl, dass die Arrivierten jetzt wieder anfangen, um ihre Plätze zu kämpfen. Sie wissen, dass die jungen Spieler mit den Hufen scharren. Das ist der Game-Changer in meinen Augen.
War das zuvor nicht mehr so?
Ich hatte das Gefühl, dass jeder meinte, ich spiele sowieso, egal ob ich gut oder schlecht spiele. Keiner war mehr bereit, Drecksarbeit zu erledigen. Das scheint sich unter Julian Nagelsmann verändert zu haben. Jetzt haben wir wieder Spieler wie einen Robert Andrich dabei, der sagt, mein Job ist es, Toni Kroos den Rücken freizuhalten und deshalb putze ich alles weg, was mir vor die Flinte kommt. Diese Typen haben uns gefehlt.
Wie war das während der EM 1996?
Wir waren eine brutale Einheit. Wir hatten tolle Führungsspieler. Es waren vier, fünf Mann, die die Richtung vorgegeben haben. Die Häuptlinge also. Der Rest waren die Indianer, die sich ihrer Aufgabe bewusst waren und sie konsequent umsetzten.
Dabei hattet ihr damals enormes Verletzungspech.
Ich glaube, von 23 Spielern sind 21 gebraucht worden. Also schon sensationell. Das ist ja eigentlich nicht üblich. Oder sagen wir es mal so, der Trainer würde es sich so nicht wünschen.
Und trotzdem hat euch das nicht gehemmt, sondern eher noch stärker gemacht.
Jeder bei uns konnte sich auf den anderen verlassen. Einer verletzte sich und der andere kam rein und knüpfte nahtlos an die Performance des Vorgängers an. So ist es auch mir ergangen. Jürgen Kohler, einer der grössten Innenverteidiger unserer Geschichte als Weltmeister und Champions-League-Sieger, verletzte sich im ersten Gruppenspiel gegen Tschechien nach einer Viertelstunde mit einem Innenbandriss. So kam ich zu meinen Einsätzen.
Abgesehen von dieser Geschlossenheit im Team, woran erinnern Sie sich sonst noch besonders gerne?
Ganz klar an unsere Physiotherapeuten und das gesamte Ärzte-Team. Die sind ja nie im Vordergrund. Aber wenn wir die nicht gehabt hätten, hätten wir es nie schaffen können. Sie haben sich für uns den Arsch aufgerissen. Zum Teil haben die nur drei, vier Stunden geschlafen, weil sie noch irgendwie versucht haben, einen Spieler fit zu kriegen. Und das war wirklich grandios und grossartig. Und leider sind die immer so ein bisschen in der Vergessenheit.
Was hat Ihnen persönlich der Titel bedeutet?
Wenn du gewinnst, ist es immer toll. Wir haben etwas Grossartiges erreicht. Aber ich kann jetzt nicht den Europameistertitel über eine deutsche Meisterschaft stellen oder über einen Pokalsieg, weil das auch genial ist.
Sind Sie mit den damaligen Mitspielern oder auch Staffmitgliedern noch in Kontakt?
Lustigerweise haben wir uns wenige Tage vor Turnierstart für zwei Tage in Rust getroffen. Es war Berti Vogts grosser Wunsch, dass man sich vor der Europameisterschaft trifft. Vielleicht werden wir in sechs Wochen abgelöst, kann ja sein.
Und worüber wurde am meisten gelacht?
Es kamen viele alte Geschichten auf. Jeder hat schliesslich eine andere Wahrnehmung gehabt. Aus diesem Grund ist es so grossartig, sich auszutauschen. Aber wir haben auch über die Gegenwart gesprochen. So habe ich zu Stefan Kunz, der beim HSV neu Manager gesagt, er solle meinen Verein wieder hochbringen. Schliesslich bin ich ja grosser HSV-Fan.
Und schaut Ihr euch in diesen Wochen auch ein Spiel zusammen an?
Nein. Zwar sind wir vom DFB fürs Schweiz-Spiel eingeladen. Aber ich glaube, nur fünf Spieler haben zugesagt. Der Rest ist nicht da, unter anderem ich. Weil ich zu euch komme und am nächsten Tag das Spiel für Blick analysiere. Und da muss ich mir das in Ruhe anschauen, weil das wäre mir alles zu stressig geworden.