Es gibt tatsächlich Dinge, die selbst ein Tausendsassa wie Julian Nagelsmann nicht beherrscht. Mathematik, zum Beispiel. Nervös sei er jeweils gewesen vor den Prüfungen. Und habe selbige auch regelmässig in den Sand gesetzt, sagte er vor dem EM-Auftakt gegen Schottland.
Ansonsten aber scheint den erst 36-Jährigen nichts aus der Ruhe zu bringen. Mit 28 wird er zum jüngsten Cheftrainer der Bundesligageschichte, rettet Hoffenheim entgegen aller Erwartungen vor dem Abstieg. Als eine der ersten Amtshandlungen rasiert er Pirmin Schwegler als Captain. Trotzdem hatte der Schweizer auch ein Jahr später nur lobende Worte für den Jungtrainer übrig: «Man darf seine persönliche Situation nicht vermischen mit einem Urteil. Ich war vielleicht der Spieler, der unter dem Trainerwechsel am meisten zu leiden hatte, ja. Als Captain abgesetzt und oft Ersatz. Trotzdem kann ich doch dazu stehen, dass er als Trainer eine Granate ist, weil alles Hand und Fuss hat, was er macht. Er hat ein unglaubliches Fachwissen und kann es vermitteln.»
Nagelsmann überzeugte Kroos
Davon profitiert mittlerweile ganz Deutschland. Lag die DFB-Auswahl im Herbst unter Hansi Flick noch in Trümmern, hat es Nagelsmann innert kurzer Zeit geschafft, den fussballspielenden Bundesadler wachzuküssen. Vorläufiger Höhepunkt ist die 5:1-Gala zum EM-Auftakt gegen Schottland, der erste Sieg in einem Auftaktspiel seit acht Jahren. Nagelsmann: «Ich glaube, jeder weiss, wie die letzten Eröffnungsspiele für Deutschland gelaufen sind. Dass schon ein bisschen Druck auf dem Kessel ist, ist normal. In den ersten 20 Minuten haben wir die Weichen gestellt, und die Mannschaft hat es wirklich sehr, sehr gut gemacht. Wir haben schon viele Dinge gut umgesetzt, die wir wollten, aber die Spieler haben einfach auch die Qualität.»
Allen voran Toni Kroos, der sechsfache Champions-League-Sieger. Dieser hatte unter Flick mit der Nationalmannschaft abgeschlossen, Nagelsmann aber schaffte es, den 34-Jährigen von einer Rückkehr zu überzeugen. Einfach sei das nicht gewesen, so Nagelsmann: «Es brauchte einen Moment, um ihn zu überzeugen. Er meinte, er komme nur, wenn wir was gewinnen können. Und er wollte wissen, was die nächsten Schritte sind.»
Wird er zum Königsmacher?
Dass Nagelsmann vom möglichen EM-Titel sprach, dürfte klar sein. Schliesslich ist der Henri-Delaunay-Pokal der einzige, der Kroos in seinem beeindruckenden Palmares noch fehlt. Sollte er seine grossartige Karriere mit einem Titel im eigenen Land veredeln, wäre er hinter Kaiser Franz Beckenbauer (1945–2024) Deutschlands neuer Fussballkönig. Und Nagelsmann der Königsmacher.
Nicht schlecht für einen Mann, der aus einem 700-Seelen-Dorf im Südwesten Bayerns stammt. «Wir haben bei uns mehr Kühe als Einwohner, darum ist das für mich schon ein besonderes Gefühl, das Land als Nationaltrainer an eine Heim-EM zu führen», sagt Nagelsmann. Klar sei er da nervös, so der 36-Jährige – aber nicht so nervös wie vor einer Mathe-Prüfung.