Als am 24. Februar die Panzer in der Ukraine einrollen und die ersten Bomben fallen, beginnt auch für den jungen Fussballprofi Anatoliy Kozlenko (19) eine an Dramatik kaum zu fassende Reise des Schreckens. Er schläft in dieser Nacht zum letzten Mal entspannt in seinem Bett. Das Haus der Familie Kozlenko ist wenige Kilometer von Butscha entfernt. Dem Ort des Grauens. Mit einem Massaker, das derzeit die Welt erschüttert.
Seine Eltern, sein siebenjähriger Bruder und Anatoliy packen an diesem 24. Februar das Nötigste und machen sich auf die Flucht. Mutter und Bruder finden in Georgien Unterschlupf. Für den Vater und für Anatoliy ist an der Grenze Endstation. Sie sind im dienstfähigen Alter und dürfen das Land nicht verlassen.
Warum sein Leben opfern?
Aber Anatoliy war in seinem Leben nur in der Schule und auf dem Fussballplatz. Mit Waffen und dem Militär ist er nie in Kontakt gekommen. Und jetzt soll er sein Leben opfern? Er will nur weg, will in Sicherheit. Er versucht es an der Grenze zu Moldawien. Erfolglos.
In wie viele Gewehrläufe er in dieser Zeit geschaut hat, wie viel Tod und Leid er begegnet ist, darüber mag er gar nicht mehr gross reden. Es schmerzt zu sehr, es wühlt ihn auf. Jeden Tag ist er mit Wohlen-Sportchef Alessio Passerini in Kontakt. «Es gab verzweifelte Anrufe mit vielen Tränen», sagt der 45-Jährige.
Eines Nachts gelingt Anatoliy die Flucht. Mit seinem kleinen Köfferchen überquert er die grüne Grenze nach Rumänien. Und schlägt sich nach Bukarest durch. «Das gelingt vielleicht einem von hundert, die es versuchen», sagt Anatoliy.
Jetzt sitzt er am Stubentisch bei Passerini im aargauischen Wohlen. Er ist Sportchef beim FC Wohlen und hat Anatoly kennengelernt, als dieser bereits im letzten Herbst drei Monate in Wohlen war. Sieben Spiele hat er damals gemacht, bevor sein Touristenvisum abgelaufen ist und er zurück nach Kiew musste.
Hilfsgeld aus der Mannschaftskasse
Aber der Kontakt ist geblieben. Nach Kriegsausbruch haben seine ehemaligen Teamkollegen die 2500 Franken der Mannschaftskasse Anatoliy überwiesen. Passerini ist mit Flüchtling Anatoliy täglich in Kontakt. Oft hat er den verzweifelten und weinenden Anatoliy am Telefon. «Er hat schon im letzten Herbst bei mir gewohnt. Ich habe ihn ins Herz geschlossen, er ist so etwas wie mein zweiter Sohn», sagt Passerini.
Die Reise der Hoffnung endet für Anatoliy am 8. März am Flughafen in Zürich. Passerini schliesst den verlorenen Sohn in die Arme. Es beginnt die Verarbeitung des Erlebten. Mit vielen Gesprächen am Stubentisch.
Und es gibt den Fussball, das tägliche Training, das ihn auf andere Gedanken bringt. Am nächsten Wochenende steht er im Aufgebot der ersten Mannschaft und will in der Schlussphase der Meisterschaft mithelfen, dass dem FC Wohlen die Rückkehr in die Promotion League gelingt. Dazu will der 1,95 grosse Innenverteidiger seinen Beitrag leisten.
Anatoliy, der seine Ausbildung zum Physiotherpeuten in Kiew nicht abschliessen konnte, ist einfach froh, dass er Ruhe und Frieden gefunden hat. «Ich bin dem FC Wohlen aber vor allem auch Alessio Passerini und seiner Partnerin unendlich dankbar», sagt er. Täglich steht er in Kontakt mit seiner Mutter und seinem Bruder in Georgien und seinem Vater, der in der Westukraine Unterschlupf gefunden hat. Ihr Haus in Kiew ist unbewohnbar geworden.
«Weiss nicht, was morgen ist»
Und die Zukunft? «Ich weiss doch nicht was morgen ist», sagt Anatoliy. Wann sieht er seine Familie wieder? Schafft er es in der Schweiz für eine Profikarriere? Wo wird dereinst sein Lebensmittelpunkt sein? Fragen über Fragen. «Anatoliy braucht jetzt Stabilität und muss für uns Unvorstellbares verarbeiten», sagt Passerini. Und ergänzt: «Aber er hat als Fussballer grosses Potenzial. Ich traue ihm eine sehr gute Karriere zu.»
Und der ukrainische Flüchtling in ihren Reihen hat auch die Mannschaft des FC Wohlen zusammengeschweisst und den Teamgeist gestärkt. «Sie alle helfen und unterstützen ihn. Man ist für ihn zusammengerückt», sagt Passerini.
Der in sich gekehrte Anatoliy nickt bei diesen Worten. Seine jugendliche Unbeschwertheit hat er verloren. «Aber eine Psychotherapie brauche ich nicht. Der Fussball ist meine Therapie», sagt er.