«Wegen des Geldes fährt man nicht Ultracycling»
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Isa Pulver im Interview:«Wegen des Geldes fährt man nicht Ultracycling»

Schweizer Extremsportlerin Isa Pulver
Diese 53-Jährige versetzt Berge und hängt Männer ab

Ein grosser Teil ihres Lebens besteht aus Leiden. So will es Isa Pulver. Die 53-jährige Zürcher Oberländerin ist Extremsportlerin. Auf dem Rad kämpft sie gegen Schlaf und Schmerzen und fährt singend die Konkurrenz in Grund und Boden – auch die Männer.
Publiziert: 19.12.2023 um 01:19 Uhr
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Aktualisiert: 19.12.2023 um 08:27 Uhr
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Ultracyclerin Isa Pulver trainiert bei Schneefall und winterlichen Verhältnissen nahe ihrem Wohnort Ittigen bei Bern.
Foto: PHILIPP SCHMIDLI | Fotografie
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Patrick MäderAutor Blick Sport

Es regnet in Strömen als die Wetzikerin Isa Pulver (53) am 23. Juni 2023 in City Dock, Annapolis, im US-Bundesstaat Maryland die Ziellinie überquert. Triumphierend hebt sie das Rennrad in die Höhe. «Diesen Moment kannst du nicht beschreiben, du musst ihn erleben», sagt sie ein halbes Jahr später am Küchentisch sitzend in ihrer Blockwohnung im bernischen Ittigen. «Und wenn du diesen Moment einmal gefühlt hast, willst du ihn wieder und wieder fühlen.»

Annapolis ist das Ziel des härtesten Radrennens der Welt, dem «Race Across America» kurz RAAM, das jährlich von der Westküste der USA an die Ostküste führt. Es geht über fast 5000 Kilometer mit rund 53'000 Höhenmetern durch zwölf Staaten, durch Wüsten wie das Monument Valley und Bergketten wie die Rocky Mountains. Pulver erreichte das Ziel im Juni nach neun Tagen, elf Stunden und sechs Minuten.

Zu diesem Zeitpunkt hatte der schnellste Mann, der Schweizer Lionel Poggio, noch 170 Kilometer vor sich, die schnellste Frau nach der Schweizerin, die Kanadiern Leah Goldstein, noch fast 300. Pulver hat sie alle abgehängt und verzichtete weiter auf Schlaf, den sie so dringend gebraucht hätte, weil sie die Nachkommenden im Zielraum persönlich in Empfang nehmen wollte, um ihnen zu gratulieren. Für diese Geste hat sie von den Organisatoren zusätzlich den Fairnesspreis erhalten.

Nächstes RAAM-Ziel im Visier

Stolz zeigt sie die Auszeichnungen, die im Wohnzimmer in Ittigen aufgereiht sind. Da hat sich einiges angesammelt in den rund elf Jahren, in denen sie als Ultracyclistin unterwegs ist. 2015 hat sie das RAAM schon einmal gewonnen, 2019 bei ihrem zweiten Mal wurde sie Dritte. Doch diesen Sommer hat sie mit ihrem zweiten Sieg alles getoppt, oder doch nicht? «Nein, es gibt immer noch Ziele», sagt Pulver. Die Rekord-Durchschnittsgeschwindigkeit der Frauen von 21,30 km/h zum Beispiel. Die hält die US-Amerikanerin Seana Hogan seit 1995. Pulver schaffte die rund 5000 Kilometer dieses Jahr mit 20,8 km/h im Schnitt. Aber wie noch schneller werden? Eine Herausforderung, die Pulver noch mehr antreibt.

Isa Pulver persönlich

Früher betrieb Isabelle Pulver Leichtathletik und bestritt Skirennen. Mit 39 kaufte sich die Wetzikerin ihr erstes Rennrad. Es war der Start zu einer eindrücklichen Ultracycling-Karriere. Das härteste Radrennen der Welt, das «Race Across America», bestritt sie als Aktive bisher dreimal. 2019 wurde sie Dritte, 2015 und 2023 siegte sie, wobei sie dieses Jahr auch sämtliche Männer hinter sich liess. Isa Pulver lebt mit ihrem Mann und Trainer Daniel in Ittigen bei Bern zusammen. Daniel Pulver war früher Konditionstrainer bei YB. Zusammen engagieren sich die beiden auch im Parasport. Isa Pulver arbeitet zu 90 Prozent als Physiotherapeutin in einer Institution für Menschen mit Beeinträchtigungen. Im November wurde sie 53-jährig und ist noch lange nicht müde, weiter ihre Grenzen zu verschieben.

PHILIPP SCHMIDLI | Fotografie

Früher betrieb Isabelle Pulver Leichtathletik und bestritt Skirennen. Mit 39 kaufte sich die Wetzikerin ihr erstes Rennrad. Es war der Start zu einer eindrücklichen Ultracycling-Karriere. Das härteste Radrennen der Welt, das «Race Across America», bestritt sie als Aktive bisher dreimal. 2019 wurde sie Dritte, 2015 und 2023 siegte sie, wobei sie dieses Jahr auch sämtliche Männer hinter sich liess. Isa Pulver lebt mit ihrem Mann und Trainer Daniel in Ittigen bei Bern zusammen. Daniel Pulver war früher Konditionstrainer bei YB. Zusammen engagieren sich die beiden auch im Parasport. Isa Pulver arbeitet zu 90 Prozent als Physiotherapeutin in einer Institution für Menschen mit Beeinträchtigungen. Im November wurde sie 53-jährig und ist noch lange nicht müde, weiter ihre Grenzen zu verschieben.

Der Wettkampf-Plan für 2024 ist gemacht. Isa und ihr Mann Daniel Pulver, der auch ihr Trainer ist, haben sich ausschliesslich Rennen in Europa ausgesucht. Das RAAM steht im nächsten Jahr nicht auf dem Plan. Nicht, weil Isa Pulver die Strapazen scheut, sondern weil es finanziell einfach nicht drinliegt. Rund 70'000 Franken kostet das US-Abenteuer mit allen Ausgaben für Vorbereitung, Reise, Ausgaben für die neun Teammitglieder, die sie begleiten, für Essen, Startgeld und Sonstiges.

Siegerprämien? Gibt es keine. Im übernächsten Jahr will sie das Projekt trotz des immensen finanziellen Rahmens noch einmal in Angriff nehmen. Länger will sie nicht warten, die biologische Uhr tickt. «Man weiss nie, ob man gesund bleibt», sagt die 53-Jährige.

Schock-Diagnose Hirnblutung

Als Physiotherapeutin arbeitet sie mit Menschen mit Beeinträchtigungen, darunter auch Tetraplegiker. Isa Pulver weiss, was Gesundheit bedeutet und wert ist. Auch aus eigener schmerzlicher Erfahrung. Im März 2022, da hämmerte es in ihrem Kopf. Sie war gerade auf dem Rad und fuhr die vier Kilometer vom Arbeitsplatz in der Berner Stiftung Rossfeld nach Hause. Die Schmerzen wurden so stark, dass sie den Notfall aufsuchen musste. Die Diagnose war ein Schock: Hirnblutung. «Es hat sicher geholfen, dass ich körperlich topfit und mental extrem stark bin. Aber ich hatte auch einfach Glück.» Isa Pulver kämpfte sich zurück, stieg acht Wochen nach der Hirnblutung wieder aufs Rennrad, pedalte beim «Race Across Italy» gleich mal quer über den Stiefel und zurück, 800 Kilometer und 10’000 Höhenmeter – quasi als Aufwärmrunde. Ein Jahr später gewann sie in den USA das härteste Radrennen der Welt.

Vom Dachs gerammt – nächste OP

Vier Wochen nach diesem triumphalen Erfolg musste sie das Glück erneut in Anspruch nehmen. Sie trainierte allein, fuhr nachts mit dem Rad auf einer Geraden zwischen Grenchen und Solothurn, da schoss aus dem hohen Gras ein Dachs auf die Strasse und knallte seitlich ins Rad. Isa Pulver stürzte schwer, verletzte sich an den Bändern der rechten Schulter, erlitt Schürfungen und Prellungen: Spital, OP, Erholung.

Erholung? Die kam wieder mal zu kurz. Denn Pulver hatte sportliche Ziele, peilte Anfang November den Sieg bei den 24-Stunden-Weltmeisterschaften in Kalifornien an. Und wenn Isa Pulver etwas vorhat, ist sie schwer davon abzubringen. Mit präpariertem Lenker, damit ihre lädierte Schulter weicher liegt, raste sie in 24 Stunden mit einem Schnitt von 30,4 km/h über den Rund-Parcours, liess dabei auch ihre favorisierte Rivalin hinter sich, die überrascht war, wie stark Pulver nach der OP bereits wieder ist. «Ich habe sie mental an ihre Grenzen gebracht», sagt die Schweizerin, und man ahnt den Ehrgeiz, der hinter dem sanften Lächeln brodelt. Nun hat sie auch das geschafft, ist Weltmeisterin im 24-Stunden-Rennen. 

Und alles ist gut gegangen. Die Gesundheit hat mitgespielt. Pulver zeigt einen kleinen silbrigen Schutzengel, den sie am Helm festgemacht hat, der sie auf jeder Fahrt begleitet – ein Schwerstarbeiter. Warum sie das alles tut und trotz allem Erreichten nicht ans Kürzertreten denkt? Diese Frage hört sie immer und immer wieder. Darauf zu antworten, fällt ihr nicht so leicht. Aber sie versucht es.

Arbeit mit Schwerstbehinderten

Bei ihrer Arbeit als Physiotherapeutin hat sie auch mit Schwerstbehinderten zu tun. «Die müssen jeden Tag ihre Grenzen verschieben für ganz kleine Erfolge», und Isa Pulver wollte genauer wissen, wie das ist. Sie wollte ihre eigenen Grenzen erkunden und kaufte sich 39-jährig ein Rennrad, nachdem sie als Helferin beim RAAM mit dabei war und die Faszination dieses Events eingesogen hatte.

Die Extremsport-Karriere nahm mit der Tortour 2012 Schwung, tausend Kilometer rund um die Schweiz in unter 48 Stunden. Danach schwor sie, sich so etwas nie wieder anzutun. Ihr Hinterteil war aufgerissen, die mentale Grenze ausgelotet, die Leidensfähigkeit aufgebraucht. Wars das? Nein, das war bloss der Anfang, und Pulver verschob in den folgenden Jahren ihre Grenzen immer weiter und weiter und weiter, lebt nach dem Leitsatz: «Jedes Ziel ist möglich.» 

Die Grenzerfahrungen helfen Isa Pulver bei der Arbeit, um ihre Klienten besser verstehen und optimaler betreuen zu können. Umgekehrt hilft sie auch ihren Klientinnen, die sehen, was möglich ist, mit viel Willen – eine Symbiose. Wenn Isa Pulver auf Tour mit ihrem Schmerz ringt, im Gesäss beispielsweise oder in Händen und Füssen, dann denkt sie an ihre Klienten, an die, die an diesen Stellen gar nichts mehr spüren können, und das hilft ihr, den Schmerz als Freund zu betrachten, ihn anzunehmen und ihm so die Wirksamkeit zu entziehen.

Gefährliche Halluzinationen

Es sind psychologische Strategien, die ihr helfen, wenn sie mal wieder völlig am Limit ist. Davon hat sie viele, und die werden auch trainiert und eingeübt. Unterwegs in der scheinbar endlosen US-Wüste sang sie laut Lieder von Marc Trauffer mit, die aus Lautsprechern dröhnten, die am Begleitfahrzeug angebracht waren. «Steil ist geil», war bei Pulver ganz hoch im Kurs. Oder sie telefonierte über eine technische Vorrichtung am Helm mit Freunden und Verwandten, putzte sich die Zähne, ass, trank, machte mit ihrer Crew Quizspiele. Bloss nicht an den grössten Feind denken, den Sekundenschlaf. Den gilt es auszutricksen, stets von neuem, immer und immer wieder.

Aber wenn man knapp zehn Tage unterwegs ist und sich dabei alle 24 Stunden bloss zwei Stunden Schlaf einräumt, weil Schlafen der grösste Zeitkiller ist, dann fährt die Müdigkeit früher oder später brutal ein. Und gegen Ende des Rennens kommen unweigerlich die Halluzinationen. «Plötzlich konnte ich die Gedanken nicht mehr ordnen. Ich dachte, ich werde von hinten von einer Frau bedrängt, sie wolle mich überholen, keine Ahnung, ob mit dem Auto, zu Fuss oder auf dem Rennrad, aber ich dachte, es könnte sehr eng und gefährlich werden so nah am Strassengraben. Ich befand mich in einer Parallelwelt, die für mich aber in diesem Moment völlig real war.»

In solch heiklen psychologischen Momenten ist das Team gefragt, vor allem ihr Ehemann und Trainer Daniel. «Mach dir keine Sorgen», hat er ihr da mit ruhiger Stimme gut zugesprochen. «Die Frau ist schmal, sie kommt ganz gut an dir vorbei.» Hätte er gesagt, du bildest dir das alles nur ein, es wäre in dieser Situation die falsche Strategie gewesen. 

Immer weiter, solange es geht

Und was, wenn das alles einmal nicht mehr möglich ist, weil auch eine Isa Pulver das Altern und die Zeit nicht aufhalten kann? «Mir ist schon bewusst, dass dieser Moment irgendwann kommen wird. Ich hoffe, dass ich ihn selber bestimmen kann.» Aber zuvor gibts noch viel zu tun.

In der Stiftung arbeitet sie 90 Prozent, an den Abenden nach dem Dienst absolviert sie Trainingseinheiten ohne Rennrad, an den Wochenenden stehen dann die langen Ausfahrten auf dem Programm. Im Januar geht sie mit ihrem Team nach Spanien ins Trainingslager. Teile des Materials sind bereits verpackt.

Dann wird sie die geplanten Wettkämpfe in Angriff nehmen, Siege und Rekorde jagen, sich neue Ziele setzen, ihre Grenzen möglichst noch weiter verschieben. Isa Pulver kann sich kein anderes Leben vorstellen. Noch nicht. Immer weiterpedalen, solange es irgendwie geht. So will sie es haben. Jedes Ziel ist möglich.

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