Stellen Sie sich vor, Sie hätten die nächsten zwei Tage nichts anderes vor, als einfach nur den Fussballplatz ihres Wohnortes zu umlaufen. Runde für Runde. Immer auf der gleichen Tartanbahn. Bei jedem Wetter. Und am Ende, nach Ablauf der 48 Stunden, würden Sie überprüfen, wie viele Kilometer Sie zurückgelegt hätten. Das mag verrückt klingen, gilt aber als Sportdisziplin mit eigener WM. Und ist genau das Ding von Dominik Kelsang Erne (42).
Der gebürtige Berner ist Ultrarunner, also einer der Ausdauersportler, die in Sachen Distanz auf die 42,195 Kilometer eines klassischen Marathons noch einen draufsetzen möchten.
Soeben hat er an der 48-Stunden-Weltmeisterschaft in Gloucester (Grossbritannien) beim zigfachen Abspulen der 400-Meter-Bahn den vierten Gesamtrang (Zweiter in seiner Altersklasse) erreicht. Zurücklegen konnte er dabei sage und schreibe 340,5 Kilometer – nur zehn weniger, als er sich «für den Optimalfall» vorgenommen hatte, und 50 weniger als der Sieger. In der Teamwertung holte er sich zusammen mit dem Tessiner Matteo Tenchio die Bronzemedaille.
Erne trotzte heftigen Windböen, Sonnenbrand und Regen – und meinte nach seinen letzten Tartanbahn-Metern: «Das war eine Grenzerfahrung, aber ich bin einfach nur happy.»
Fast kein Schlaf – und Essen nur in Bewegung
Natürlich ist nicht jeder Ultraevent ein ständiges Im-Kreis-Rennen. Doch gerade Wettkämpfe mit dieser Eigenschaft sind im Vergleich zu langen Distanzläufen durch Landschaften und Städte eine besondere Herausforderung. Eine massive Strapaze für den Körper und vor allem für den Geist. «Im Grunde genommen geht es permanent nur ums Krisenmanagement», sagt Erne. Denn bei solchen Distanzen komme man mental früher oder später immer ans Limit. «Es gibt unterwegs extrem viele schöne Momente, doch in anderen ist es fast zum Weinen. Der Schlüssel sind für mich ein positives Mindset, der Durchhaltewillen und der Fokus aufs Hier und Jetzt.»
Neben einer intensiven sportlichen Vorbereitung sei der Kopf während des Rennens fast noch wichtiger. Und: «Ein guter Plan.» Denn im Vergleich zu einem 24-Stunden-Rennen, in dem Erne praktisch «duresecklet», ist das bei doppelter Dauer nicht möglich. Also hatte sich Erne für Gloucester einen fast auf die Minute genaues Zeitkonzept geschrieben. Elementar war dabei einerseits der möglichst geringe Schlaf; aus den budgetierten zwei wurden in der Realität ein bisschen mehr als drei Stunden. Und andererseits die Verpflegung: 35 Gramm Sponser-Gel pro Stunde, für die Zufuhr von Elektrolyten, Salz und Koffein. Daneben regelmässig Bananen, Orangen, Schleckzeug und Madeleines. Alle drei, vier Stunden ein Energydrink und viel Cola. Und überhaupt: alle 20 Minuten ein, zwei Schlucke Wasser, womit er auf sechs Deziliter Wasser pro Stunde kommt.
Mehr Sport
Verrückt: Eingenommen wird selbst die alle sechs Stunden offerierte feste Nahrung, also etwa Pasta oder Pizza, stets in Bewegung: «Stehenbleiben ist keine gute Idee», meint Erne. Halte man komplett an, sei es deutlich schwieriger, wieder in den Rhythmus zu kommen.
Und genau diesen braucht er, um eben auch mental im Trott zu bleiben. «Ganz ehrlich: Auch ich laufe lieber in den Bergen statt auf einer Tartanbahn. Und doch mag ich diese Challenge. Hier gibts keine Ablenkung, hier bist du wirklich nur bei dir und mit den anderen Athleten, die alle dasselbe Ziel haben. Für mich ist das wie eine sehr lange Meditation», sagt der Mann, der täglich Qigong praktiziert – eine asiatische Meditations-, Konzentrations- und Bewegungsform.
Erne kann verstehen, wenn Leute sagen, «dass es doch kaum Spass machen kann, stundenlang im Kreis zu laufen». Doch ihm gehe es auch darum, «persönliche Grenzen zu verschieben». Ausserdem sei es eine «Riesenehre», offiziell für die Schweiz an den Start gehen zu dürfen – und im Herzen auch noch für Tibet, das Heimatland seiner Mutter.
Die Premiere? War eine «absolute Katastrophe»
Vor Gloucester hat Erne schon einmal ein 48-Stunden-Rennen mit Kreislauf bestritten und dieses als «absolute Katastrophe» abgestempelt. Mental sei der Plan damals überhaupt nicht aufgegangen. «Das Rennen fand in Brugg statt. Ich war derart am Ende, dass ich mir irgendwann dachte: ‹Scheiss drauf.› Also ging ich für fünf Stunden am Stück schlafen. Ich sagte mir, dass ich so eine Art von Wettkampf nie wieder machen würde.» Und doch ist Erne drei Jahre später ins Hamsterrad zurückgekehrt, «dankbar» für jene erste Erfahrung – und überglücklich, dass sich jetzt seine zweimonatige spezifische Vorbereitung mit einem professionellen Trainer ausbezahlt hat.
Erne, der selbst ein Diplom als Ironman-Coach und Running-Leiter ESA besitzt, nimmt solche Extremerfahrungen auch in sein Alltagsleben mit. «Sie helfen mir in allen möglichen Situationen, sei es privat oder im Job. Ich bin ruhiger, flippe nicht sofort aus, sondern betrachte die Dinge objektiv.» Er ist überzeugt, dass ihm das Mentaltraining auch beim beruflichen Aufstieg geholfen hat – bis zum Marketingleiter Schweiz eines multinationalen Unternehmens.
Herausfordern will er Körper und Geist weiterhin. Die 48-Stunden-WM sei ein extrem wichtiger Meilenstein, aber eben auch eine Zwischenetappe: «Mein Ziel sind noch längere Sachen. Aber dann nicht mehr im Kreis.»