Foto: Sven Thomann

Historische EM-Chance für Hakobyan
Dieser Flüchtling träumt vom Box-Weihnachtsmärchen

Als erster Profi mit Schweizer Lizenz seit 32 Jahren kann Andranik Hakobyan am Samstag EBU-Europameister werden. Als krasser Aussenseiter träumt er vom Lucky Punch.
Publiziert: 14.12.2020 um 15:37 Uhr
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Aktualisiert: 18.12.2020 um 09:26 Uhr
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Andranik Hakobyan (31) ist einst als Flüchtling in die Schweiz gekommen
Foto: Sven Thomann
Emanuel Gisi

Ein bisschen kitschig klingt die Geschichte schon. Andranik Hakobyan (31) ist einst als Flüchtling in die Schweiz gekommen. Sieben Jahre alt ist er, als sich seine Familie von Armenien aus auf eine Odyssee begibt: Während dreieinhalb Jahren sind die Hakobyans unterwegs, über Weissrussland, Polen, Deutschland, Frankreich und Spanien führt die Flucht.

«Ich erinnere mich, wie wir über gefrorene Flüsse geflohen sind», sagt Hakobyan im Juni 2019 im BLICK. «Wie ich jeden Morgen Angst hatte, dass die Polizei vor der Tür steht und wir abgeschoben werden, weil der Asylantrag abgelehnt sein könnte. Einmal flüchteten wir nachts in einem kleinen Auto zu sechst von Deutschland nach Frankreich. Wir mussten jeden Tag ums Überleben kämpfen.»

In der Kinderkrippe geputzt und Pfandflaschen gesammelt

Kämpfen tut Hakobyan noch immer. Und wie: Mittlerweile ist er Profiboxer, im Aargau führt er ein Gym, weil Profiboxer zu sein in der Schweiz vor allem bedeutet, dass man für den Traum, irgendwann vom Boxen Leben zu können, auf sämtliche Haftungsansprüche verzichtet.

Dass es bei Hakobyan irgendwann so weit sein könnte, daran glaubt mittlerweile fast niemand mehr. Ein Talent, aber auch einer mit einer grossen Klappe. Wer sich in der Schweizer Box­szene umhört, merkt schnell: Viele nerven sich tierisch über den grossmäuligen Aargauer, andere haben ihn ein bisschen ins Herz geschlossen. Weil hinter der grossen Klappe auch ein lieber Kerl zu stecken scheint, der vor ein paar Jahren noch von ein paar Hundert Franken im Monat lebte, in ­einer Kinderkrippe putzte und Pfandflaschen sammelte, die er dann nach Deutschland brachte, um ein bisschen Geld zusammenzubekommen.

Die Zeit läuft ihm davon

Das ist eine gute Geschichte, nützt im Ring aber wenig: Von seinen 17 Profikämpfen hat er 14-mal gewonnen, einmal verloren, zweimal schaute ein Unentschieden heraus, der ganz grosse Gegner war nie dabei. Das eine oder andere Mal wurde er von den Kampfrichtern nicht ganz fair behandelt, nicht alle sehen es gern, wenn einer im Ring zwischendurch noch ein Tänzchen aufführt. Die sagen: Das mag Muhammad Ali einst gemacht haben, aber Muhammad Ali hat danach auch geliefert. Davon abgesehen ging Muhammad Ali den Traditionalisten damals auch auf den Geist.

So langsam läuft Hakobyan die Zeit davon. Mit 31 kann er in den mittleren Gewichtsklassen, in denen er sich bewegt, nicht noch einmal mit fünf guten Jahren rechnen.

Er muss wichtigsten Kampf der Karriere absagen

Aber jetzt wäre sie plötzlich da gewesen, kurz vor Weihnachten, Hakobyans goldene Chance. In Torrelavega, einer 50 000-Einwohner-Stadt im Norden Spaniens, hätte er am nächsten Samstag den wichtigsten Kampf seiner Karriere bestritten. Sergio Garcia (28) wäre sein Gegner gewesen, ein in 32 Profi-Fights unbesiegter Spanier. Der Box-Weltverband WBC führt ihn als Nummer 2 im Super-Weltergewicht (bis 70 kg), im Businessplan ist bald einmal ein WM-Kampf vorgesehen.

Grosse Fortschritte

Vorher aber will sich Garcia noch etwas in Form bringen und nebenbei den Europameister-Titel der EBU im Super-Weltergewicht abstauben. Eine Niederlage gegen Hakobyan, den unbekannten Gym-Betreiber aus der Schweiz, den ersten Boxer mit Schweizer Lizenz seit 32 Jahren, der EBU-Europameister werden könnte, einer, der normalerweise eine oder zwei Gewichtsklassen tiefer boxt und von der unabhängigen Boxrec-Weltrangliste im Super-Weltergewicht auf Platz 174 geführt wird, hatte im Szenario keinen Platz.

Hatte. Denn der Traum vom Titelkampf ist geplatzt: Hakobyan muss den EM-Titelkampf absagen. Eine Verletzung an der linken Schulter, eine Woche vor dem Fight im Training zugezogen, macht einen Einsatz unmöglich, eine längere Pause ist unumgänglich.

Dabei hatte die Hoffnung gelebt. Hakobyans Manager Gregor Stadelmann erzählt, Garcias Manager habe ihm eine Wette angeboten: «Der Kampf ist schneller fertig als damals der Fight zwischen David Haye und Arnold Gjergjaj!» Der Schweizer Schwergewichtler ging 2016 den Ex-Weltmeister chancenlos in Runde 2 k.o.

Kurz: Hakobyan hatte eigentlich keine Chance. Also wollte er sie packen. Dafür tat er alles: Anfang November machte er sein Box-Gym zu und reiste nach Marbella, trainiert dort im renommierten «MTK Global»-Trainingszentrum. Schwergewichts-Superstar Tyson Fury (32) hat sich dort für seine Kämpfe auch schon fit gemacht. «Ich habe grosse Fortschritte gemacht», sagte Hakobyan zwei Tage vor seiner Verletzung am Telefon. Das bisschen Geld, das er für den Kampf bekommen sollte, hatte er längst für Training und Coaches wieder ausgegeben. «Ich merke, dass ich nach vier Wochen ein viel besserer Boxer bin als zu Beginn. Die Spanier kochen hier auch nur mit Wasser», sagte er. «Der einzige Unterschied zu uns: Die denken 24 Stunden am Tag nur ans Boxen.» Das tat Hakobyan jetzt auch. «Ich habe Garcia auf Videos studiert. Ein sehr unsauberer Boxer, aber einer mit einem breiten Rücken, mit viel Ausdauer. Ich habe Respekt vor ihm, aber ich glaube, ich kann ihn schlagen.»

Das Weihnachtsmärchen wurde am Ende nicht wahr. Die Geschichte vom Flüchtlingskind, das Jahrzehnte später Box-Europameister wird, sie klang wirklich kitschig. Aber gut – vielleicht zu gut, um wahr zu sein.

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