60 Jahre alt und viel zu erzählen. Stefan Angehrn spricht im grossen Interview über seine wilden Jugendjahre, seine unvergleichliche Box-Karriere und wie er durch die Schuldenhölle ging.
BLICK Herr Angehrn, wie fühlt es sich an, im Knast zu sein?
Stefan Angehrn: Du bist auf einmal nicht mehr frei und kannst gar nichts machen. Eine Erfahrung, die ich definitiv nicht gebraucht hätte. Heute aber kann ich darüber lachen.
Das Ganze passierte 2012. Sie wurden beschuldigt, Drahtzieher eines Drogenrings zu sein. Der Vorwurf: Sie sollen 115 Kilogramm Kokain geschmuggelt und in der Schweiz vertrieben haben.
Als ich um 6 Uhr von zehn Polizisten aus dem Bett geklingelt wurde, hatte ich keine Ahnung, was mir vorgeworfen wurde. Ich dachte zuerst, jemand erlaubt sich einen Scherz mit mir. Die haben das ganze Haus durchsucht. Auf einmal kam ein Polizist und rief: «Wir haben etwas gefunden!» Er tauchte dann mit einer Büchse, gefüllt mit Stevia-Süssstoff, auf …
Wie ging es weiter?
Sie steckten mich in eine sehr kleine Zelle. Nur mit einer Unterhose bekleidet, damit ich mir auch ja nichts antun konnte.
Sie mussten eine Nacht im Gefängnis verbringen. Konnten Sie überhaupt schlafen?
Ich bin da cool und kann eigentlich überall schlafen, auch wenn das Bett jetzt nicht das Bequemste war. Lustig war noch folgende Geschichte: Am Abend erhielt ich ein Stück Fleisch mit Gemüse und ein Butterbrot mit Konfitüre. Als ich am nächsten Morgen läutete, weil ich das Frühstück wollte, hiess es: Ich hätte ja bereits gestern das Butterbrot bekommen. Also blieb mein Magen leer. Zum Glück durfte ich dann noch am selben Tag wieder gehen.
Sie wurden damals vom Täter der sogenannten Schenkkreis-Morde beschuldigt. 2014 wurde das Verfahren gegen Sie eingestellt. Die Vorwürfe waren haltlos. Hatten Sie schon früher mit der Polizei zu tun?
Als Jugendlicher gab es schon mal den einen oder anderen Polizeibesuch, weil wir auch mal etwas mitgehen liessen oder ein bisschen Lärm machten.
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Waren Sie ein schwieriger Teenager?
Ich war halt ein Wilder. Bereits mit 16 Jahren zog ich von zu Hause aus. Mir war es dort zu langweilig. Ich wollte immer mehr machen, als nur in einem Schulzimmer zu sitzen und meine Zeit zu verblödeln. Ich lebte dann auch ein paar Monate an der Thur in Zelten. Ich war wohl sehr anstrengend für meine Eltern.
Sie haben in Ihrem Buch Ihre Jugend so zusammengefasst: «Ein paar Schlägereien, stramme Besäufnisse, regen Mädchenbesuch.»
Ich wollte immer ein Held sein, etwas Besonderes, ein Starker. Aber ich war zu der Zeit ein Blender. Ich konnte zwar immer super gut reden, es steckte aber nichts dahinter. Stattdessen musste ich immer das letzte Wort haben, wie ein Mädchen. Fürchterlich …
Der Wendepunkt in Ihrem Leben soll der Moment gewesen sein, als sie von sechs älteren Kerlen zusammengeprügelt wurden.
Das stimmt. Ich lag bereits am Boden, als plötzlich ein Kerl aus der Dunkelheit auftauchte. Er verprügelte und verjagte die Angreifer. Dann sagte er mir: «Du musst was tun, Kleiner! Sonst kriegst du immer wieder was auf die Fresse.» Er war damals Schweizermeister im Boxen und nahm mich am nächsten Tag mit ins Training.
Boxen und Stefan Angehrn – war das Liebe auf den ersten Blick?
Ich war von diesem Sport sofort begeistert. Ich habe dann zweieinhalb Jahre nur trainiert, ohne einen Kampf zu bestreiten.
Wovon lebten Sie?
Ich jobbte als Kellner oder Discjockey und arbeitete für die Gipserfirma meines Vaters auf dem Bau. Hinzu kamen zweimal die Woche Box-Training abends und viermal die Woche Joggen morgens. Deshalb stand ich oft um 5 Uhr auf, aber das machte mir nichts aus. Wir sind nicht vermögend aufgewachsen. Ich habe bei meinen Eltern gesehen, dass man «chrampfen» muss, um es zu schaffen.
Zwischen 1989 und 2000 bestritten Sie als Profi 25 Kämpfe. Dabei sind Sie nie richtig K.o. gegangen. Wie wichtig ist das Ihnen?
Das gefällt mir. Ich mag keine Boxer, die sich schnell aufgeben. Ich bin bis heute statistisch betrachtet neben Fritz Chervet der erfolgreichste Boxer, den die Schweiz je hatte.
Der Schweizer Boxverband hatte aber keine Freude an Ihnen.
Die «Dubbel» verboten mir, Kämpfe zu bestreiten, da ich in ihren Augen zu wenig gut war. Ich dachte: Wollt Ihr mich verarschen? Also kämpfte ich für Luxemburg, weil die mir sympathisch waren.
Sind Sie denn mit Ihrer Karriere zufrieden?
Meine Karriere war geil. Als nichttalentierter Garnichts musst du das erst mal hinkriegen.
Das klang nach Ihrem letzten Kampf 2000 noch anders: «Sportlich waren die zehn Jahre für die Katz.»
Das hatte ich aus den Emotionen heraus gesagt.
Sie gaben damals in der 10. Runde auf und sagten anschliessend: «Wenn man nicht gut genug ist, hat man im Ring nichts zu suchen.»
Ich hatte da schwierige Tage hinter mir. Am Mittwoch vor dem Kampf wurde uns Zuhause plötzlich der Strom abgestellt, und wir brauchten sofort 10'000 Franken, um Schulden zu begleichen. Also musste ich mich ums Geld kümmern, statt mich auf den Kampf vorzubereiten. Zudem war bei meinem Gegner Christophe Girard nicht alles sauber.
Was nicht?
Seine Bedingung für den Kampf war: keine Dopingkontrollen. In den ersten Runden hatte er keine Chance, aber ab der fünften wurde er immer besser. Irgendwann war ich richtig angepisst und sagte zu mir: «Hey, ich habe das alles gar nicht nötig.» Deshalb gab ich auf, was rückblickend ein grosser Fehler war.
Warum?
Offenbar lag im Falle eines Sieges ein unterschriftsreifer Vertrag für einen Rückkampf gegen Torsten May vor, der mir eine halbe Million eingebracht hätte. Doch niemand aus meinem Umfeld hatte mir vor dem Kampf davon erzählt, es sollte wohl eine Überraschung werden. Hätte ich davon gewusst, hätte ich natürlich gegen Girard niemals aufgegeben.
Sie hatten zu diesem Zeitpunkt 434’000 Franken Schulden. Das liebe Geld und Stefan Angehrn – es war immer ein Thema.
Wir waren nie auf Rosen gebettet und hatten nie Luft, auch wenn meine Ex-Frau Renata trotz vier Kindern immer arbeiten ging. Trotzdem blieb ich immer Optimist und werde es auch immer bleiben.
Auch als Sie die Sparsäulis Ihrer Kinder plündern mussten?
Glauben Sie mir: Es tut weh, das zu tun, aber es ging damals nicht anders. Wir brauchten jeden Fünfliber, auch um den Stromkasten zu bedienen, der wegen der Schulden bei uns installiert wurde.
Hat man in solchen Momenten kein schlechtes Gewissen?
Sie haben es ja jeweils wieder zurückbekommen. In diesen Situationen konnte man nicht sentimental sein. Wir hielten als Familie immer zusammen, es gab ganz selten Vorwürfe. Aber ja, die Zeit war nicht einfach. Die Kinder wurden in der Schule gehänselt, Leute wechselten die Strassenseite, wenn Renata unterwegs war, und meine Eltern gingen im Nachbarsdorf einkaufen, um Bekannten aus dem Weg zu gehen.
Warum häuften Sie überhaupt solche Schulden an?
Das lag an mehreren Gründen. Für mich zählte ein Handschlag immer. Für andere aber nicht. Ich war sicherlich gelegentlich auch zu naiv und ein dummer Weltverbesserer. Und auch Ihr habt einen Teil dazu beigetragen. Wegen dem BLICK wurde ich mindestens dreimal nicht Millionär!
Das müssen Sie uns jetzt erklären!
Ihr habt Geschichten über mich gebracht, die nicht in Ordnung waren und die mich viel Geld gekostet haben.
Ein Beispiel bitte für diesen happigen Vorwurf?
Der grösste Tiefschlag war sicherlich die Geschichte über meine Schulden 1999. Vielleicht war das sogar gut gemeint von euch. Aber als ich tags darauf am BLICK-Telefon den Lesern zur Verfügung stand, haben die geflucht über mich. Ich solle mich doch schämen, war noch das Harmloseste, was ich zu hören bekam. Dadurch fiel ich innerhalb eines Tages vom Heldensockel runter, und die Kinder wurden fortan in der Schule gemobbt.
Wir sehen das natürlich anders. Trotzdem sitzen wir hier an einem Tisch.
Das alles ist Schnee von gestern. Wäre ich ein Journalist, hätte ich vielleicht das Gleiche gemacht. Ich möchte mich auch gar nicht beklagen. Ich bin dort, wo ich bin, weil ich das gemacht habe, was ich gemacht habe. Deshalb mache ich auch keine Vorwürfe an andere. Das war früher noch anders, da waren immer die anderen schuld.
2005 sagten sie: «In einem Jahr bin ich Millionär.» Hat das geklappt?
Nein, aber ich habe fast keine Schulden mehr. Meine Berater sagten mir immer, ich solle Konkurs anmelden und wieder bei null starten. Doch das wollte ich nicht. Leute, die Geld von mir zugute haben, sollen das auch kriegen.
Möchten Sie noch immer Millionär werden?
Natürlich, das will doch jeder.
Und? Schaffen Sie es?
Ja!
Wieder in einem Jahr?
Nein, so etwas würde ich heute nicht mehr sagen. Früher habe ich halt viel geredet und wenig überlegt. Das ist heute anders.
Sie führen zusammen mit Ihrer Freundin Bettina «Swiss Shape», eine Firma für Nahrungsergänzungsmittel. Kritiker sagen, es handle sich im Vertrieb um ein Schneeballsystem.
Das ist Quatsch. Wir machen das seit 16 Jahren, alles ist in Ordnung. Würden die Vorwürfe stimmen, hätten wir nicht schon so lange überlebt. Was wir hier machen, hat Hände und Füsse. Wenn du diese Produkte zu dir nimmst, wirst du gesünder und kannst mindestens zehn Jahre älter werden.
Auch wenn Sie demnach sehr alt werden, schon heute die Frage: Was soll mal auf Ihrem Grabstein stehen?
«I did it my way» oder «Ich bin stolz auf mich».
Dieses Interview erschien bereits im November 2020 ein erstes Mal. Zum Anlass seines 60. Geburtstags wurde es nun neu publiziert.