BLICK: Herr Wehrli, wie froh sind Sie, dass es zu Ihrer Zeit den Videobeweis noch nicht gab?
Roger Wehrli: Sehr froh, mit dem VAR hätten wir 1978 im Europapokal der Landesmeister nicht das grosse Real Madrid ausgeschaltet, denn Claudio Sulser stand beim entscheidenden 2:0 im Rückspiel mindestens zwei Meter im Offside.
Wie viele Tätlichkeiten hätte der VAR bei Ihnen nachträglich aufgedeckt?
Nicht so viele. Ich erhielt während meiner ganzen Karriere nur dreimal die Rote Karte. So ein Schlimmer war ich nicht. Da gab es andere. Die konnten dir kalt lächelnd die Faust in die «Schnorre» hauen.
Wollen Sie damit sagen, dass Sie auf dem Platz ein Engel waren?
Nein, ich machte ganz selten Fouls von hinten, hielt aber einfach immer die Sohle hin. Helmuth Johannsen, mein Trainer bei GC, sagte mir einst: «Du musst mit der Sohle einfach immer höher sein als dein Gegner.» Das habe ich getan und deshalb hatte ich auch selten Verletzungen.
Woher kommt denn Ihr Spitzname Giftzahn?
Der kommt von Thomas Niggl, meinem damaligen Mitspieler bei GC. Als er später Journalist wurde, nannte er mich so.
Während Ihrer Karriere gab es aber schon den einen oder anderen giftigen Zwischenfall. Sie sollen einst Uli Stielike «Heil Uli» zugerufen haben.
Eines vorneweg: Ich war immer ein Gerechtigkeitsfanatiker. Wer mich provoziert hat, bekam es doppelt zurück. So war es auch bei ihm. Er nannte mich zuerst «Kuhschweizer», also wehrte ich mich auch mit Worten.
Einen verbalen Schlagabtausch soll es auch mit Karli Odermatt gegeben haben.
Er hat die erste und einzige Rote Karte wegen mir bekommen. In einem Spiel hatte ich den Auftrag, ihn abzumelden. Diesen Auftrag habe ich erfüllt. Irgendwann sagte er zu mir: «Du junger Hüpfer, du kannst ja nicht mal einen Pass geradeaus spielen.» Ich antwortete: «Halt dein Maul, dir muss man ja demnächst die AHV überweisen.» Da rannte er mir nach, gab mir einen Tritt in den Arsch und flog deswegen vom Platz.
1991 brachen Sie Marcel Koller das Bein.
Wir führten mit Aarau gegen GC 3:0. Ich spielte ja zuvor sieben Jahre mit ihm bei GC, da breche ich ihm doch nicht absichtlich das Bein. Es war eigentlich eine harmlose Situation. Ich hielt die Sohle hoch und «Mäse» rutschte unten rein. Es hat richtig geknallt, doch der Schiedsrichter liess weiterlaufen. Nach dem Spiel ging ich duschen und fuhr sofort ins Spital Aarau. Doch dort wollte man mich nicht zu ihm lassen. Also rief ich seine damalige Frau an. Sie meinte nur, der redet nie mehr ein Wort mit dir. Das war schon schwierig. Jahre später haben wir uns dann aber mal gesehen und kurz darüber geredet.
Wie war damals der Umgang mit den Schiedsrichtern?
Du konntest dir mehr erlauben, weil man sich gekannt und geduzt hatte. Habe ich mal zu viel gemeckert, sagte der Schiedsrichter: «Roger, du machst auch Fehler, lass mich in Ruhe». Danach war auch meistens Ruhe.
Und wann nicht?
Ich kann mich an ein Spiel mit Schiedsrichter Kurt Röthlisberger erinnern, der wie ich aus Suhr stammt. Ich hatte das Gefühl, er habe nicht gut gepfiffen. Als ihm das sagte, meinte er: «Roger, halt den Latz.» Ich dachte mir nur: Na, warte! Als er bei einem Abstoss retour lief, kniete ich absichtlich runter und tat so, als ob ich mir die Schuhe binden würde. Prompt stolperte er über mich, fiel zu Boden und 12'000 Zuschauer grölten laut. Das war meine Rache.
Wer mit Ihnen ein Interview führt, muss auf das Spiel zwischen YB und Luzern von 1987 zu sprechen kommen.
Ich nahm damals wegen Krämpfen Magnesium, was offenbar abführend wirkt. Nach 20 Minuten bekam ich Magenkrämpfe und merkte, dass ich dringend aufs Klo musste. Kurz vor der Pause hielt ich es nicht mehr aus. Ich rannte vom Spielfeld und schaffte es trotzdem nicht mehr rechtzeitig aufs WC. Das Ganze ging voll in die Hose. Als meine Teamkollegen in die Kabine kamen, wurden sie von einem ziemlich unangenehmen Geruch empfangen. Zum Glück hatten wir eine zweite Hose dabei. Als ich nach der Pause zurück aufs Spielfeld kehrte, erhielt ich Gelb, weil ich mich beim Verlassen des Spielfelds beim Schiedsrichter nicht abgemeldet hatte. Damit hier aber noch etwas Positives geschrieben wird: In diesem Spiel erzielte ich kurz vor Schluss das 1:1.
Kürzlich machte eine Doku über Schmerzmittel im Fussball Schlagzeilen. Wie war es damals?
Das war üblich. Hatte ich Schmerzen, nahm ich Ponstan. Als Luzern 1989 Meister wurde, hatte ich eine Diskushernie. Ich spielte deshalb die letzten zehn Spiele nur mit Spritze. Was da gespritzt wurde, wusste ich nicht. Ich vertraute immer den Ärzten.
Einmal lief bei einer Spritze aber etwas schief, oder?
Unser Arzt war nicht am Spiel. Deshalb half einer von St. Gallen aus. Er erwischte voll einen Nerv. Als ich einen Pass spielen wollte, pfefferte ich den Ball unkontrolliert auf die Tribüne, weil man rechtes Bein gelähmt war. Da musste ich selber lachen und liess mich sofort auswechseln.
Sie hatten während Ihrer Karriere oft deutsche Trainer. Wie kamen Sie mit denen zurecht?
Hennes Weisweiler war mit Abstand der beste Trainer, den ich je hatte. Ein Traum. Weniger Freude hatte ich an Helmuth Johannsen.
Warum nicht?
Er war einfach sehr unfreundlich und rief mir jeweils «du Bauernjunge, hau ab nach Suhr» zu.
Liessen Sie sich das gefallen?
Natürlich nicht (lacht). Es gäbe da eine witzige Geschichte, die ich aber eigentlich nicht erzählen möchte, da sie ein bisschen eklig ist.
Schiessen Sie bitte los!
Also gut, neben unserem Trainingsplatz bei GC hatte es Brombeerstauden. Einmal pinkelten etwa zehn Spieler absichtlich darüber. Während des Einlaufens blickten wir immer zu Johannsen rüber. Als er die Brombeeren pflückte und ass, mussten wir nur noch lachen.
Als Sie Real Madrid schlugen, war Johannsen Ihr Trainer.
Ich spielte im Hinspiel rechter Aussenverteidiger gegen Juanito. Der war bestimmt dreimal schneller als ich und hat mich ein paarmal richtig vernascht. Irgendwann rief Niggl zu mir rüber: «Wehrli, jetzt hau än ändlich mal um.»
Haben Sie seinen Ratschlag befolgt?
Ja, bei der nächsten Aktion habe ich ihn richtig schön über die Out-Linie gelegt. Ich erhielt die Gelbe Karte, und von den Zuschauern wurden tausende von Kissen runtergeworfen. Vor dem Rückspiel zuhause sagte Johannsen zu mir: «Du deckst heute wieder Juanito. Der sieht keinen Ball.» Zehn Minuten vor Schluss flog er wegen einer Tätlichkeit an einem anderen Spieler vom Platz. Er zerstörte dann in den Katakomben eine Glasscheibe und wurde für seinen Ausraster für mehrere Spiele gesperrt. Aber wissen Sie, was das Spezielle danach war?
Nein.
Zehn Minuten nach Spielschluss kommt er in die GC-Kabine und schenkt mir sein Leibchen. Vor so einer Geste ziehe ich den Hut.
Sie haben jetzt schon zweimal den Namen Thomas Niggl erwähnt. War er einer der verrücktesten Mitspieler, den Sie je hatten?
Das kann man so sagen. Früher gab es noch B-Nationalmannschaften. 1977 spielten wir mit Schweiz B in Kaiserslautern gegen Deutschland B. Niggl hatte den Auftrag, Rudolf Seliger zu decken, einen typischen Flügel. Schnell einmal stand es 3:0 für Deutschland. Seliger hatte dreimal geflankt und in der Mitte hatte Dieter Müller dreimal eingeknickt. Und was machte Niggl? Er sang auf einmal während des Spiels laut: «O du Seliger».
Zurück zu den Trainern. Auch in Luzern hatten Sie mit Friedel Rausch einen Deutschen.
Ich war in Luzern Captain. Rausch erzählte einst, jetzt käme als Verstärkung ein schwarzer Topspieler aus Holland. Eine Woche später fragte ich ihn: «Wann kommt er?» Rauschs Antwort: «Jimbo, halt die Schnauze, der kommt schon.» Nach einer weiteren Woche fragte ich wieder nach. Rausch: «Halt die Schnauze.» Am anderen Morgen sagte ich meiner Frau: «Mäusi, gib mir die schwarze Perücke.» Ich zog sie an, malte meine Haut schwarz an, zog weisse Handschuhe an, hängte eine Tasche um und fuhr zum Training.
Was passierte dann?
Als ich in die Kabine kam, erkannte mich kein Spieler. Die fragten sich, wer das jetzt wohl ist? Ich verstand ja alles, was sie sagten. Nach etwa fünf Minuten kam Friedel Rausch rein. Wahrscheinlich hatte ihm der Masseur gesagt, der neue Holländer sei da. Als Rausch mich erkannte, sagte er: «Du verdammter Sauhund.» Und wissen Sie, was das Beste war? Ich trainierte danach noch in diesem Outfit.
1989 wurden Sie mit Luzern Meister. Später hatten Sie aber Ärger mit Rausch.
Viele Spieler kamen zu mir, weil sie mit seinem Co-Trainer Ignaz Good ein Problem hatten. Also ging ich als Captain zu Rausch und sagte ihm das. Er kam daraufhin in die Spielerkabine und fragte, wer alles wolle, dass Good gehen müsse.
Was passierte dann?
Ich war der einzige Spieler, der die Hand hob. Das war ein trauriger Moment.
Scherereien hatten Sie bei GC auch mit Trainer Miroslav Blazevic.
Er konnte nur Französisch, was ich nicht verstand. Deshalb übersetzte Andy Egli immer für mich. Einmal sagte Blazevic: «Wir gehen für vier Tage ins Trainingslager in Einsiedeln. Wir werden es lustig haben.» Am ersten Tag hatten wir gleich drei Trainingseinheiten und um 23 Uhr war Bettruhe. Ich sagte deshalb: «Andy, das kann nicht sein. Was soll daran lustig sein?» Abends gingen wir runter in die Beiz und jassten bis um 4 Uhr. Natürlich tranken wir auch was. Am anderen Morgen klopfte es plötzlich an unserer Tür. Blazevic kam rein, redete mit Egli zehn Minuten, dann ging er wieder. Ich verstand kein Wort. Egli sagte daraufhin: «Du, wir werden nach Hause geschickt. Wir müssen gehen.» Also rief ich meine Frau an, die uns abholte.
Apropos Französisch: Wie kamen Sie in der Nati mit den Welschen aus?
Damals gab es wirklich einen «Röschtigraben». Wir Deutschschweizer hatten die Welschen nicht gerne. Und sie uns nicht. Wir sassen immer an getrennten Tischen und wohl auch deshalb konnten wir uns nie für eine Endrunde qualifizieren.
Haben Sie während Ihrer Karriere eigentlich gutes Geld verdient?
Das hiess es damals immer. Doch ich zählte bei GC nie zu den Bestverdienenden. Es war halt eine andere Zeit. Wir hatten noch keine Berater. Die Verhandlungen mit Präsident Karl Oberholzer liefen immer gleich ab.
Wie?
Ich kam in sein Büro rein. Er fragte mich: «Roger, was stellst du dir vor?» Ich sagte: «Eine Steigerung.» Dann schwieg er zehn Minuten lang, rauchte in der Zeit drei Zigaretten und schaute aus dem Fenster raus.
Und gab es dann auch mehr Geld?
Ein klein bisschen ja.
Sie haben heute nichts mehr mit dem Fussball-Business zu tun. Ist das eine bewusste Entscheidung?
Ja, das ist nicht mehr meine Welt. 2018 war ich für drei Monate noch Trainer vom FC Gränichen. Die Spieler schauten überall auf ihr Handy. Als ich nach dem Training noch ins Klubrestaurant etwas trinken ging, kam kein Spieler mit. Alle gingen nach Hause. Und man darf den Spielern von heute nichts mehr sagen. Sonst gibt es gleich Ärger.
Sie arbeiten schon seit Jahrzehnten als Plättlileger. Wie viel Spass macht das?
Sehr viel, auf der Baustelle muss man niemanden in den Arsch kriechen und kann so reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist. Das gefällt mir. Ich arbeite noch heute jeden Tag. Weil ich muss und weil ich will!
Im nächsten März werden Sie 65 Jahre alt. Werden Sie dann aufhören zu arbeiten?
Mal schauen. Der Junge übernimmt dann die Firma. Wenn er es wünscht, werde ich ihm gerne noch ab und zu helfen.