Es gibt zwei Geräusche, die im Baseball den Himmel bedeuten. Da ist das trockene Klacken, wenn der Ahornschläger des Schlagmanns den Ball perfekt trifft, sodass die Kugel in majestätischem Bogen aus dem Stadion fliegt: Homerun! Es gibt Kenner, die behaupten, sie könnten bereits am Ton erkennen, ob ein Treffer auch ein solcher Volltreffer wird. Dann gibt es das saftige Klatschen, wenn der Ball im Handschuh des Catchers verschwindet, vorbei am verzweifelt ins Leere schwingenden Schläger.
Und dann gibt es Shohei Ohtani (26), Japaner, Profi in der Major League Baseball bei den Los Angeles Angels: Er ist der Mann, der alle glücklich macht. Ohtani kann beides: Werfen und Schlagen, alles auf Weltklasseniveau, und das ist eine Sensation. Als ob sich Lionel Messi alle paar Tage beim FC Barcelona auch noch ins Tor stellen würde.
Er wirft 160 km/h und schlägt weiter als 130 Meter
«Ich habe noch nie jemanden gesehen, der in beiden Disziplinen so raffiniert ist», sagt Tony La Russa (76), Trainer der Chicago White Sox. La Russa ist ein altes Baseball-Schlachtross, 1963 gab er sein MLB-Debüt als Spieler, seit 1979 ist er Trainer, sechsmal stand er im MLB-Final, dreimal wurde er Meister. Er musste 76 Jahre alt werden, um Ohtani zu erleben. Anfang April war es so weit. Gegen La Russas White Sox spielte der Japaner zum ersten Mal für die Angels im selben Spiel als Werfer und als Schläger. Er tat dies mit durchschlagendem Erfolg: Erst feuerte er einen 160-km/h-Wurf an seinem Gegenspieler vorbei. Wenig später knallte er einen 137,5-Meter-Homerun aus dem Stadion. Historisch! Noch nie hat das jemand im selben Spiel geschafft.
Damit bringt der 1,93-Meter-Mann jahrhundertealte Gewissheiten in seiner Sportart ins Wanken. Im Baseball ist es so: Irgendwann muss man sich als Talent entscheiden. Man wird entweder Pitcher und arbeitet jahrelang daran, seine Würfe so zu perfektionieren, dass sie in verschiedenen Tempi und in unterschiedlichen Flugbahnen möglichst schwer zu treffen sind. Oder man wird Batter und versucht, all die raketenartig heranzischenden, angeschnittenen oder in letzter Sekunde fies abtauchenden Bälle ins Feld zu schlagen.
Sogar Babe Ruth musste sich entscheiden
Sogar der legendäre Yankees-Superstar George Herman – genannt: «Babe» – Ruth, der sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts fröhlich durch New York soff, frass, kopulierte, rauchte und nebenher für sein Team warf und schlug und sieben Meistertitel gewann, musste sich irgendwann festlegen.
Ohtani aber ist ein Einhorn. Er ist beides. «Es gibt nur eine Regel bei ihm», sagt sein Trainer Joe Maddon. «Und die lautet: Es gibt keine Regeln.» Zwischenzeitlich hatte Ohtani den härtesten Wurf, den härtesten Schlag und den härtesten Homerun-Treffer der gesamten MLB auf dem Konto. Obwohl er in beiden Disziplinen ja eigentlich nur Teilzeitarbeiter ist. Und auch der alte Babe Ruth kann sich warm anziehen: Schafft Ohtani 400 Schlagversuche und 100 Wurf-Innings in einer Saison, bringt er Ruths Bestmarke, die für die Ewigkeit gedacht war, zu Fall.
Hat er sogar das Zeug zum MVP?
Für seine Zeitgenossen könnte es nun sowieso eng werden. «Wenn er 10 Siege als Pitcher und 30 Homeruns als Batter knackt, dann wird er ein sehr interessanter Kandidat als MVP», sagt Buster Olney, Baseball-Berichterstatter bei ESPN. Unrealistisch ist das nicht, 4 Homeruns hat Ohtani in der noch jungen Saison schon. Sicher ist: Die Sportdebatte in den USA würde heisslaufen, Bluthochdruck bei den Kommentatoren, welche die Sportart jeweils den Sommer über mit religiösem Eifer sezieren, garantiert.
Bleibt noch eine Frage: Macht der Körper mit? Letzte Saison setzte Ohtani aus, musste sich der Tommy-John-Operation unterziehen, einer Prozedur am Ellbogen, die viele Pitcher über sich ergehen lassen und von der man sich lange erholen muss.
Es gibt keine Limiten
Trainer Maddon sieht für seinen Schützling jedenfalls keine Limiten. Eher will er dem stillen Japaner, den sie in Los Angeles in Anlehnung an seinen Vornamen und die nahe Hollywood-Traumfabrik drolligerweise «Sho Time» nennen, ein paar Liter amerikanisches Selbstbewusstsein und Optimismus einimpfen. «Ich will, dass er die Sache selber in die Hand nimmt», sagt Maddon. «Er kommt aus einer sehr respektvollen Kultur, wo Autoritätspersonen nicht gleich hinterfragt werden. Ich habe ihm gesagt: ‹Für mich passt es. Ich will, dass du mir sagst, was du denkst. Ich werde dich nicht bremsen.›»
Die Botschaft ist klar: Bleibt er gesund, wird Ohtani einer der Stars der nächsten Dekade. Obwohl es einen wie ihn eigentlich gar nicht geben sollte.