Jozef Hanulik ist an diesem Samstag, dem 21. Februar 1976 früh aufgestanden und dann gleich von Zürich nach Neuhausen gefahren. Heute will der 26-jährige Tschechoslowake Geschichte schreiben. Er will als erster Mensch mit einem Kanu den Rheinfall befahren.
Doch jetzt, wo sein lang ersehnter Traum endlich in Erfüllung gehen soll, läuft einiges schief. Die vermeintlichen Freunde, die ihm an diesem Tag helfen sollen, springen ab. Einer nach dem anderen. Aus Angst, dass diese Aktion ihre Einbürgerung gefährden könnte. Und dann fehlt da noch dieses verflixte Verbindungsstück, das er benötigt, um die Pressluftflasche (gefüllt mit Sauerstoff für den Notfall) mit dem Schlauch verbinden zu können. Vergessen hat er es in der Hektik, zu Hause in Zürich einfach liegen lassen. So ein Mist!
Am Rheinfall droht der totale Reinfall. Muss er seinen tollkühnen Plan verschieben? Hat er sich vergeblich jahrelang auf diesen einen Moment vorbereitet? Unzählige Male Hölzchen oberhalb des Rheinfalls ins Wasser geworfen, um die einzelnen Strömungen zu studieren? Hat er für nichts und wieder nichts sein Studium für zwei Semester unterbrochen, nur um jetzt, kurz vor dem Ziel, doch noch zu scheitern?
«Ich bin der Einzige, der noch zehn Finger hat»
Nein, ein Jozef Hanulik gibt nicht auf. Ein Jozef Hanulik kämpft für seine Träume, sucht auch in scheinbar ausweglosen Situationen nach Lösungen. So war er schon als Kind. Rückblende. Hanulik wächst in der kommunistischen Tschechoslowakei auf. Er ist schon immer ein Abenteurer. Er ist fasziniert von Chemie. Bastelt bengalische Feuer und Knallkörper. «Wir haben damals nichts verstanden, aber alles gemacht», erzählt er heute lachend, «ich bin der einzige meiner damaligen Freunde, der noch zehn Finger und zwei Augen hat.» Sagt es und streckt stolz beide Hände in die Höhe.
Doch auch er schaut schon als Jugendlicher dem Tod in die Augen. Einmal geht er mit einem Freund in einen halb zugefrorenen Baggersee schwimmen. Der Sprung vom Eis ins Wasser geht einfach. Das Hochklettern auf die einbrechende Eisschicht ohne Hilfsmittel und in Zeitnot aber nicht. Eigentlich ein Todesurteil. Weil er aber ruhig und besonnen bleibt, überleben die zwei.
Nach der Matura begibt sich Hanulik auf eine grosse Europareise. Nur mit einem Rucksack und 50 Kilogramm Konservenessen. Per Autostopp geht es durch verschiedene Länder. «Ich habe mit 18 schon mehr Länder gesehen als unser damaliger Aussenminister. Der war ja meist nur in der Sowjetunion ...»
Irgendwann landet Hanulik in Winterthur ZH. Er arbeitet auf dem Bau. Kauft sich mit seinem ersten Geld einen Skoda 1000 MB. Sein Plan: Er will mit dem Auto zurück in seine Heimat reisen. «Dort wäre ich mit der Karre der König gewesen. Damals musste man jahrzehntelang auf ein Auto sparen.» Doch dann kommt alles anders. Prager Frühling. Die Truppen des Warschauer Pakts marschieren im August 1968 in die Tschechoslowakei ein. Gegen 100 Demonstranten werden erschossen. «Meine Eltern riefen mich damals aufgeregt an und sagten: ‹Stopp, bleib in der Schweiz. Wir kommen nach.›»
Rund 13’000 tschechoslowakische Flüchtlinge nimmt die Schweiz damals auf. Sie sind der Schweiz willkommen, weil viele davon gebildet sind und es dank der boomenden Wirtschaft viele Arbeitsplätze gibt. Die Familie Hanulik findet sich in der neuen Heimat schnell zurecht. Jozef beginnt an der ETH Zürich ein Chemie-Ingenieur-Studium und finanziert es mit nächtlichem Taxifahren.
Beinahe in der Limmat ertrunken
Eines Tages besucht die Familie den Rheinfall. Jozef Hanulik ist sofort begeistert. Die verwegene Idee, ihn mit dem Kanu zu befahren, keimt in ihm auf. Bereits in der Tschechoslowakei nahm er mit dem Kajak an Wildwasserrennen teil. Auch in der Schweiz fährt er Kanu. Dabei kommt er einmal fast ums Leben.
An seinem 19. Geburtstag passiert es. Er gerät in der Limmat mit dem Kanu ins Kehrwasser des Platzspitzwehrs. Immer wieder zieht es Hanulik runter. Er ist nur noch ein machtloser Passagier. Er macht ungewollt einen Looping nach dem anderen. Das Boot zerbricht. Er hadert. «Es kann doch nicht sein, dass ich hier wie eine Katze einfach ertrinke», sagt er sich. Halb ertrunken wird er nach unendlich langen sieben Minuten in der «Waschmaschine» herausgespült. Er ist draussen. Hat überlebt. Mit viel Glück und Schnittverletzungen.
Ein ganzes Jahr fährt Hanulik danach nicht mehr Kanu. Doch dann kommt eben der Rheinfall ins Spiel. Während sechs Jahren analysiert er ihn. Mal bei Hoch-, mal bei Niedrigwasser. Er studiert drei mögliche Linien. In Fahrtrichtung ganz links (unmöglich, zu viel Kehrwasser), in der Mitte zwischen den Felsen (gefährlich), rechts (befahrbar).
Klar ist: Zu bezwingen ist der Rheinfall nur im Winter bei Niedrigwasser. Hanulik bereitet sich akribisch auf das Abenteuer vor. Schwimmt jeden Tag drei Kilometer. Taucht bis in 29 Meter Tiefe. Tüftelt monatelang am Material.
In sein vier Meter langes spitziges Kajak – ein selbst gebautes Polyesterboot – baut er bewusst mehrere Sollbruchstellen ein, damit im Notfall das Kanu auseinanderbricht und er aussteigen kann. Als Kopfschutz dient ein American-Football-Helm mit Gesichtsgitter, als Genickschutz eine hart aufgeblasene Taucherrettungsweste.
Am Ufer wartete die Polizei auf ihn
Und dann kommt er endlich, dieser lang ersehnte 21. Februar 1976. Aber eben, die Freunde springen ab, und dieses verflixte Verbindungsstück hat Hanulik zu Hause vergessen. Das eine Problem ist schnell gelöst, ein verbliebener Freund fährt kurz nach Zürich und holt es. Doch weil ihm irgendwann an diesem Samstag nur noch ein Helfer übrig bleibt, muss er seine Routenwahl anpassen.
Für die mittlere Linie hätte er mehrere Helfer gebraucht. «Sie wäre gefährlicher gewesen, weil ich die Linie voll hätte treffen müssen. Dazu hätte ich Helfer benötigt, die mir im Notfall hätten Seile zuwerfen können.»
Doch jetzt fehlen diese, und deshalb entscheidet sich Hanulik für die rechte Linie. Um 15.30 Uhr gehts endlich los. Hanulik startet. Überwindet in mehreren Etappen die 23 Meter Höhendifferenz. Legt dabei drei Zwischenstopps ein. Beim zweiten Halt stellt er sich minutenlang in den eiskalten Rhein. Dies soll die Oberschenkel abkühlen. «So hätte man bei einem Oberschenkelbruch weniger Schmerzen und würde dadurch nicht in Ohnmacht fallen.» Beim letzten grössten Sprung, dem zehn Meter hohen ins Rheinfallbecken, macht er nach der Landung eine Eskimorolle und taucht sofort wieder auf. Nach einer Stunde ist er am Ziel seiner Träume: Hanulik hats geschafft! Alles lief so problemlos, wie er es sich erhofft hatte.
Am Ufer erwartet ihn bereits die Polizei. Sie wurde von den unzähligen Schaulustigen gerufen. Hanulik wird ermahnt, mehr nicht. Denn damals ist das Befahren des Rheinfalls im Gegensatz zu heute nicht verboten. Schlussendlich helfen ihm die Polizisten sogar noch, das Kajak zum Auto zu tragen. Die «Schaffhauser Nachrichten» schreiben mit kritischem Unterton: «Als der Mann ans Ufer ruderte, wurde er von ‹Freunden› beglückwünscht, die auch eine Flasche Kognak mitgebracht hatten, um die Horrorfahrt zu begiessen.»
Er war vor Gorbatschow in Tschernobyl
Hanuliks Leben geht auch nach der Befahrung des Rheinfalls spektakulär weiter. Er ist ein typischer Erfinder. Wird dipl. chem. Ing. ETH und Doktor der Technischen Wissenschaften. Arbeitet am Eidgenössischen Institut für Reaktorforschung, dem heutigen Paul-Scherrer-Institut, in Würenlingen AG. 1984 erfindet er ein Verfahren, mit dem radioaktiv verstrahltes Metall gereinigt werden kann, ohne dass dabei wie bei den gängigen Methoden viel Abfall entsteht. Doch zuerst ist seine Erfindung nicht gefragt. «Damals war radioaktiver Abfall kein Problem. Alles wurde weltweit einfach verfestigt ins Meer geworfen.»
Doch dann kommt der 26. April 1986. Die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl. Um 1.23 Uhr nachts explodiert der Reaktorblock 4. Hanuliks Erfindung (der sogenannte Decoha-Prozess), verstrahlten Stahl zu dekontaminieren, ist plötzlich gefragt. Er ist einer der Ersten aus Europa, der nach Tschernobyl reist. «Ich war etwa ein Jahr vor Gorbatschow dort. Der hat sich zum Leidwesen der Bewohner lange nicht dorthin getraut», sagt Hanulik kopfschüttelnd. Mit dem Helikopter fliegt Hanulik über den riesigen, offenen Krater. Sieht die menschenleere, verlassene Stadt. Er erhält zusammen mit einigen Firmen den Auftrag, Zehntausende von Tonnen Stahl zu entseuchen.
Auch nach der Katastrophe von Fukushima ist sein Expertenwissen gefragt. Und er erfindet ein Batterie-Recycling-Verfahren, bei dem Haushaltsbatterien bis zu 95 Prozent wiederverwertet werden können. Zurzeit arbeitet der mittlerweile 71-jährige Schweizer an einem Klimaschutzprojekt und widmet sich einer weiteren Leidenschaft, dem Einradfahren.
Der Rheinfall beschäftigt ihn heute noch
Jozef Hanulik redet mittlerweile seit fast drei Stunden über sein Leben. Das viele Reden hat ihn nachdenklich gemacht. Die Sache mit dem Rheinfall beschäftigt ihn auch heute, 45 Jahre danach, noch immer. «Wenn ich darüber erzähle, kommt alles wieder hoch. Ich habe das bis heute offenbar noch nicht komplett verarbeitet.»
Die Freunde, die abgesprungen sind. Seine Wut auf sie in den Tagen danach. War das vielleicht alles doch auch gut für ihn? Hätte er sonst die schwierigere, mittlere Route genommen und dafür mit dem Leben gebüsst?
Diese Fragen treiben ihn bis heute um. Auch deshalb kehrt er immer mal wieder an den Rheinfall zurück. Etwas freut ihn dabei besonders. «Wenn man heute mit der Fähre zum Rheinfallfelsen fährt, erzählt der Speaker von einem verwegenen tschechoslowakischen Studenten, der den Rheinfall 1976 als erster Mensch bezwungen hat.»
Jozef Hanulik lächelt amüsiert.