«Kinder sind für Frauen eine der grössten wirtschaftlichen Gefahren»
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SP-Nationalrätin Funiciello:«Kinder sind für Frauen eine der grössten wirtschaftlichen Gefahren»

SP-Nationalrätin Funiciello über Kinder als «Armutsfalle»
«Vielleicht solltet ihr es einfach sein lassen»

Nachwuchs rechnet sich nicht für die Mütter, sagt Tamara Funiciello, Co-Präsidentin der SP Frauen. Mit der Gleichstellung gehe es ohnehin kaum voran.
Publiziert: 12.06.2022 um 00:46 Uhr
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Aktualisiert: 07.06.2023 um 17:27 Uhr
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SP-Nationalrätin Tamara Funiciello (32) sagt im SonntagsBlick-Interview: «Fakt ist, Kinder sind für Frauen eine riesige Armutsfalle.»
Foto: Keystone
Interview: Simon Marti und Janina Bauer

SonntagsBlick: Am grossen Frauenstreik 2019 hielten Sie eine fulminante Rede auf dem Bundesplatz. Ein paar Monate später wurden Sie und eine ganze Reihe von Politikerinnen in den Nationalrat gewählt. Was hat diese neue Generation bisher erreicht?

Tamara Funiciello: Zu wenig. Bei der Bekämpfung von Gewalt gibt es Fortschritte, wie wir diese Woche gesehen haben. Die Revision des Sexualstrafrechts wäre in dieser Form noch vor drei Jahren undenkbar gewesen. Ein Quantensprung.

Die Linke wollte weitergehen: Sex ohne Zustimmung gälte dann als Vergewaltigung.

«Ja heisst Ja» bleibt das Ziel, nun ist der Nationalrat am Zug. Der Ständerat hat sich nur aufgrund des feministischen Drucks bewegt. Diesen Druck werden wir aufrechterhalten.

Wo sind Sie gescheitert?

Schwierig wird es, sobald es ums Geld geht. Gleichstellung kostet, doch die rechte Mehrheit will dafür nicht zahlen. Dabei leisten Frauen jedes Jahr unbezahlte Arbeit in der Höhe von 248 Milliarden Franken. Das ist der ganze Bereich der Care-Arbeit, in der Kinderbetreuung, der Krankenpflege oder im Haushalt.

Das sind Ihre Zahlen.

Sie stammen vom Bund. Ich liefere gerne noch mehr: Der jährliche Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen beträgt 108 Milliarden Franken. Die Kinderbetreuung durch Grosseltern entspricht jedes Jahr einem Wert von acht Milliarden. Diese Belastung tragen einzelne Menschen anstelle der Gesellschaft.

Ihre Lösung lautet einfach, dass der Staat die privaten Entscheidungen finanzieren soll.

Sie tun so, als ob Kinder zu bekommen etwas Privates sei.

Ja. Geht es noch privater?

Es ist so lange privat, bis niemand mehr Kinder bekommt. Mein Punkt ist: Die Schweizer Politik tut zu wenig für Frauen und viel zu wenig für Frauen mit Kindern. Wenn die Frauen ökonomisch rechnen, sollten sie aufhören, Kinder zu bekommen. Sie gehen ein wirtschaftliches Risiko ein, begeben sich in die Abhängigkeit ihres Partners und sind zum Dank chronisch überarbeitet.

Sie sagen, dass Frauen keine Kinder mehr bekommen sollen?

Nein, das sage ich nicht. Das soll jede Frau für sich entscheiden. Fakt ist, Kinder sind für Frauen eine riesige Armutsfalle. Unter den aktuellen Umständen sage ich den Frauen: Vielleicht solltet ihr es einfach sein lassen.

Haben Sie für sich persönlich diese Rechnung auch gemacht?

Es geht nicht um mein Privatleben.

Jetzt ist die Familienplanung doch privat.

Familienplanung ja – Familienarbeit nicht. Es geht um die makroökonomische Ebene. Auf dieser Ebene lohnen sich Kinder für Frauen eben nicht. In Paarbeziehungen arbeiten sie 70 Stunden die Woche, davon 23 unbezahlte Stunden mehr als ihre Partner. Die Quittung bekommen sie im Alter, wenn sie ein Drittel weniger Rente erhalten als die Männer.

Nach dieser Logik hätten uns unsere Vorfahren gar nicht zur Welt bringen dürfen. Deren Bedingungen waren richtig übel.

Unser aller Glück, dass wir nicht nur nach dieser ökonomischen Logik funktionieren. Zu verlangen, dass Frauen alles aus Liebe machen und dann den Preis dafür bezahlen, ist einfach frech. Wir haben dieser Gesellschaft so viel Zeit gelassen, um bei der Gleichstellung endlich vorwärtszumachen! Eine Million Frauen demonstrierte am feministischen Streik. Und wo stehen wir heute? Wir haben nicht einmal genügend Kitaplätze.

Warum hat Ihre Partei in den grossen Städten, die sie dominiert, nicht schon längst ein ausreichend grosses Kita-Angebot geschaffen?

Die Situation ist dort besser, wo Rot-Grün regiert. Die Kinderbetreuung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Darum braucht es unsere Kita-Initiative.

Es gibt auch Leute, die finden, dass die Gesellschaft sich gefälligst aus ihrem Privatleben raushalten soll.

Niemand will etwas vorschreiben. Was fehlt, ist die Unterstützung der Gesellschaft für eine gesellschaftlich unabdingbare Aufgabe. Leidtragende sind immer die Frauen. Das ändern wir nicht, indem wir das konservative Rollenverständnis ein bitzeli entstauben und die Männer umerziehen.

Sondern?

In Paarbeziehungen gehen Männer häufiger einer Lohnarbeit nach, weil ihre Löhne höher sind. Wir brauchen endlich gleiche Löhne und eine Senkung der Arbeitszeit. Dann haben nämlich alle mehr Zeit für die Arbeit daheim.

In Zeiten von Fachkräftemangel und Inflation schwebt Ihnen eine Senkung der Produktivität vor?

Die Produktivität sinkt nicht, wenn die Arbeitszeit sinkt. Sie ist in den letzten Jahrzehnten massiv gestiegen, ohne dass die Menschen davon profitiert haben.

Wie viel sollten wir denn Ihrer Meinung nach noch arbeiten?

In einem ersten Schritt könnten wir runter auf eine 35-Stunden-Woche. Je produktiver wir sind, desto weniger sollten wir arbeiten. Warum arbeiten wir so lange, wie zu Zeiten, als es noch keine Computer gab?

Wir steigen auch nicht mehr mit acht Jahren in die Kohlemine.

Darum haben wir zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Arbeitszeit halbiert. Seit den 1950er-Jahren explodiert die Produktivität, doch weder die Löhne noch die Arbeitszeit sind daran angepasst.

Mit weniger Kindern lösen wir diese gesellschaftlichen Probleme sicher nicht.

Das ist genau der Widerspruch. Frauen sollen so arbeiten, als wären sie keine Mütter, und sollen Mütter sein, als würden sie nicht arbeiten. Die dafür erforderlichen Rahmenbedingungen schafft man aber nicht. Die einzigen Menschen, die zurzeit in Gleichberechtigung leben, sind diejenigen, die es sich leisten können, Care-Arbeit auszulagern.

Sie behaupten im Ernst, einzig Reiche seien wirklich gleichgestellt?

Genau. Darum macht mich die AHV-Diskussion so hässig. Sie wird zur Gleichstellungsdiskussion gemacht, dabei geht es im Kern um Arm und Reich. Wer es sich leisten kann geht mit 62 in Rente. Diejenigen ohne Geld bleiben bis 65 und sind im Alter von Ergänzungsleistungen abhängig. Das ist doch absurd!

Wir werden immer älter, Korrekturen bei der AHV sind unausweichlich.

Als die AHV eingeführt wurde, hatten wir auch noch keine Managerlöhne von mehreren Hunderttausend Franken im Monat …

Manager, die viel mehr einzahlen, als sie ausbezahlt bekommen. Das Beste, was der AHV aus linker Perspektive passieren kann.
Das Beste, was der AHV passieren kann, sind ordentliche Löhne. Für alle, aber insbesondere für Frauen.

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