Anfang Woche war eine dreiköpfige Schweizer Delegation in Kiew. Zu den Gesprächspartnern gehörten unter anderem der ukrainische Vizepremier und der Generalstaatsanwalt. Die Abgesandten des Aussendepartements waren auf wichtiger Mission unterwegs: Ihr Chef, Aussenminister Ignazio Cassis (61), peilt Grosses an. Die Schweiz soll Schutzmacht werden für die Beziehungen zwischen den Kriegsparteien Ukraine und Russland.
Die Drähte laufen heiss, dem Vernehmen nach geht es auf ukrainischer Seite primär noch um technische Fragen. Die grössere Unbekannte ist Moskau. Der Kreml hält sich bedeckt. Präsident Wladimir Putin (69) will erst entscheiden, wenn ein unterschriftsreifes Abkommen vorliegt.
Chancen stehen «fifty-fifty»
Die Chancen auf einen Durchbruch stünden derzeit «fifty-fifty», sagt ein mit den Verhandlungen vertrauter EDA-Mann. Cassis hatte bereits kurz nach Kriegsbeginn am 24. Februar in Moskau und Kiew angeklopft. Russlands Aussenminister Sergei Lawrow (72) machte die helvetischen Avancen daraufhin im März in einem TV-Interview publik. Am 30. April wurde das Vorhaben in einem zuversichtlich stimmenden Telefonat Cassis’ mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski (44) bekräftigt. Und das World Economic Forum (WEF) in Davos GR bot im Mai eine zusätzliche Gelegenheit, die Gespräche fortzuführen, wie die Zeitungen von CH Media berichteten.
Mittlerweile ist das Parlament involviert. Am Freitag vor einer Woche traf sich die Aussenpolitische Kommission (APK) des Nationalrats am Rande der Sommersession zu einer ausserordentlichen Sitzung. Auch dort stand das Schutzmachtmandat im Zentrum. Johannes Matyassy (64), stellvertretender Staatssekretär im Aussendepartement, informierte die Volksvertreter über den Stand der Verhandlungen. Der Topdiplomat beschwor die Politiker, sich strikt ans Kommissionsgeheimnis zu halten. Mit dem diplomatischen Coup in Sichtweite wächst im EDA die Nervosität vor einem Scheitern auf den letzten Metern.
Gibt es Grund zum Optimismus?
Hinter vorgehaltener Hand äusserten sich mehrere Teilnehmer der Sitzung gegenüber SonntagsBlick indes optimistisch. Die aktuelle Sichtweise geht so: Hätte Russland kein Interesse an den Guten Diensten der Schweiz, wären die Verhandlungen bereits geplatzt.
Dass Bern ein Schutzmachtmandat übernehmen soll, ist parteipolitisch unbestritten. Gerade die SVP sieht darin den Königsweg neutraler Aussenpolitik. Oder wie es ihr Nationalrat Roland Rino Büchel (56) formuliert: Schutzmachtmandate seien ein erprobtes Mittel der Diplomatie. «Sie dienen dem Frieden garantiert mehr als die Mitgliedschaft im Sicherheitsrat», sagt der St. Galler. «Ich hoffe einfach, dass die Sanktionen der Schweiz gegen Russland diese Anstrengungen nicht noch torpedieren.»
Alle Parteien dafür
Aussenminister Cassis ist sich dessen bewusst: Der Tessiner weiss nur zu gut, dass die Guten Dienste eines der wenigen aussenpolitischen Geschäfte sind, in denen er über das ganze Parteienspektrum Sukkurs geniesst.
Die SVP brachte diese aussenpolitische Tradition gar als Argument gegen die Russland-Sanktionen ins Spiel. Das Vorhaben wird überdies kaum von der Neutralitätsdebatte tangiert, die von Christoph Blocher (81) seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs forciert wird.
Cassis wird wohl davon ausgehen, dass mit dem Einsitz im Uno-Sicherheitsrat auf dieser Flanke demnächst noch heftiger gekämpft wird, wenn die Entscheide im Sicherheitsrat zum Dauertraktandum im Parlament wird.
Wettbewerb ist hart
Das bemühte Narrativ der Schweiz als «Kriegspartei» stört den diplomatischen Effort umso mehr, für die Vertrauensbildung in Moskau dürfte das sicher nicht hilfreich sein.
Denn der Wettbewerb im Bereich der Guten Dienste ist hart umkämpft. Traditionell stehen die Skandinavier, aber auch Österreich bereit, dessen Hauptstadt Wien Sitz der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) ist.
Verschiedene Länder bieten ihre Dienste an
In den letzten Jahren sind neue Player wie Saudi-Arabien, Dubai oder Singapur hinzugekommen, die Konferenzen ausrichten und hinter den Kulissen Konflikte lösen. Im Ukraine-Krieg hat Präsident Recep Tayyip Erdogan (68) die Türkei erfolgreich in der Rolle als Vermittlerin etablieren können – notabene mit einem ausgebufften, wenn auch zynischen Meisterstück: Ankara liefert Waffen an die Ukraine und lehnt gleichzeitig die Russland-Sanktionen ab.
Das wichtigste Schutzmachtmandat der Schweiz gilt seit 1980: Bern gewährt den direkten Informationsaustausch zwischen den Erzfeinden Iran und USA. Der Auftrag aus Teheran und Washington hat der Eidgenossenschaft in den letzten vier Jahrzehnten viel Prestige beschert – und wiederholt Türen für diplomatische Geschäfte geöffnet.
Ob es von Kiew und Moskau ebenfalls grünes Licht für den Status als Schutzmacht geben wird, hängt auch von externen Faktoren wie dem Kriegsverlauf und dem Verhalten anderer Regierungen ab. Im EDA liegt das Schicksal also nicht allein in den eigenen Händen.
Mit einem Durchbruch hätte Cassis jedenfalls sein Denkmal.