Zürcher Wohnprojekt pleite
Bewohner von Behinderten-WG müssen nach 40 Jahren ausziehen

Finanzchaos und untätige Behörden: In Zürich müssen 20 Menschen mit Behinderung ins Heim ziehen, nachdem sie jahrzehntelang selbständig gelebt haben.
Publiziert: 09.12.2024 um 11:23 Uhr
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Aktualisiert: 09.12.2024 um 11:24 Uhr
Viele der Betroffenen müssen direkt ins Altersheim – nur weil sie zu alt für IV-Assistenzbeiträge sind.
Foto: Getty Images/imagenavi

Auf einen Blick

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Conny Schmid
Beobachter

Vor 40 Jahren galt das Angebot des Vereins Integriertes Wohnen für Behinderte (IWB) als einzigartig und fortschrittlich. Ab 1985 richtete er an drei Standorten in Zürich Wohnungen und WG-Zimmer für Menschen mit körperlichen Behinderungen ein – inklusive Pflege und Assistenz nach Bedarf, als Alternative zum Leben in einem Heim.

Jetzt ist damit Schluss. Ende Juni 2024 erfuhren die rund 20 Bewohnerinnen und Bewohner, dass sie per Ende Jahr ausziehen müssen. Der Verein ist bankrott.

Viele Wechsel, keine Übersicht

Für die Betroffenen war die Nachricht ein Schock. Im Grunde war es aber ein Ende mit Ansage. Während der letzten zwölf Jahre gab es im Vorstand 18 personelle Wechsel, in der Geschäftsleitung acht. Das hat Spuren hinterlassen.

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Es gebe keine Kontinuität in der betriebswirtschaftlichen Übersicht, die Dokumentation sei desolat, manche Akten seien unauffindbar, schreibt Vereinspräsident Joe Manser im letzten Jahresbericht. Klar ist: Man hat in den letzten acht Jahren fast durchweg rote Zahlen geschrieben und von den Reserven gezehrt, bis es keine mehr gab.

«Es blieb einzig die Schliessung»

Gemerkt hat das bei den ständigen Wechseln offenbar niemand – bis jetzt. Manser übernahm das Amt 2023, nachdem sein Vorgänger das sinkende Schiff Knall auf Fall verlassen hatte.

Daraufhin suchte der Vorstand nach möglichen Fusionspartnern. Geklappt hat das nur für einen der drei Standorte. «Für die anderen blieb einzig die Schliessung», sagt Manser. Der Kanton schoss notfallmässig 700'000 Franken ein, um die Liquidation abzuwickeln und den Betrieb bis Ende 2024 sicherzustellen.

Probleme waren bekannt

Fraglich ist, warum der Kanton nicht schon viel früher die Notbremse gezogen hat. Der IWB ist eine kantonal anerkannte Institution, wird hauptsächlich über kantonale Beiträge finanziert und muss dem Kanton jährlich Rechenschaft ablegen. Es zeichnete sich schon lange ab, dass der Betrieb nicht mehr finanzierbar ist. Die Bewohner wurden älter, der Pflegebedarf stieg.

Gleichzeitig kam es vermehrt zu Leerständen, weil Menschen, die weniger Unterstützung brauchen, das Assistenzmodell der IV nutzen und dadurch in der eigenen Wohnung leben können. Für kleine Institutionen ist es schwierig, Leerstände auszugleichen, denn der Kanton entrichtet bedarfsgerechte Beiträge pro Bewohner.

Darüber hinaus leistete sich der Verein eine zu teure Geschäftsstelle. «Der Aufwand pro Bewohner war viel zu hoch», sagt Joe Manser.

Warum blieb der Kanton untätig?

Laut Insiderinformationen hat der Kanton schon vor zehn Jahren auf die Probleme hingewiesen. Es wurde ein neues Betriebskonzept erarbeitet, aber nie umgesetzt. Warum, weiss heute niemand mehr.

Auch warum der Kanton das weiterlaufen liess, ist unklar. «Die Geschäftsführung liegt grundsätzlich bei den Institutionen», teilt eine Sprecherin mit. Und: Bis zur Jahresrechnung 2022 habe man nicht davon ausgehen müssen, dass sich die Finanzlage so rasch verschlechtere. Das erstaunt, zumal aus den Geschäftsberichten die Defizite und schwindenden Reserven der letzten Jahre ja hervorgehen.

Geistig fit ins Altersheim

Ausbaden müssen es nun die gegen 40 Mitarbeitenden sowie die Bewohnerinnen und Bewohner. Für sie ist die Situation besonders aufreibend. Manche zweifeln, ob es wirklich so hat kommen müssen. Sie kritisieren, dass sie lange im Ungewissen gelassen und dann vor vollendete Tatsachen gestellt worden seien.

Die meisten finden in so kurzer Zeit keine gleichwertige Anschlusslösung. Sie müssen in ein Heim, manche sogar ins Altersheim, obwohl sie geistig fit sind. Wer im AHV-Alter ist, kann keine IV-Assistenzbeiträge beantragen, die ein eigenständiges Wohnen ermöglichen.

Für jene mit erhöhtem Assistenzbedarf reichen die Beiträge oft nicht aus. Sie müssen ihr selbstbestimmtes Leben aufgeben. Es passiert also genau das Gegenteil dessen, was die Behindertenrechtskonvention vorschreibt und der Kanton Zürich mit dem Selbstbestimmungsgesetz umsetzen will.

Quellen

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