Auf einen Blick
«Wollen Sie zu den Vorwürfen etwas sagen?» Der Videojournalist hält das Mikrofon an diesem Dezembermorgen vergebens in die Luft. Der grau melierte Herr wagt zwar einen Seitenblick, nimmt dann aber zwei Stufen auf einmal. Zielstrebig. Hinauf zur Tür, die sich hinter ihm schliesst. Automatisch, als hätte ihn das Bezirksgericht Bülach gerade verschluckt.
Es ist zwölf Jahre her, da kommen im Tierspital Zürich zwei Kätzchen zur Welt. Notkaiserschnitt. Doch alles geht gut. Schon bald stolpern die zwei Fellknäuel entweder übereinander oder über die eigenen Pfoten, in die sie erst noch hineinwachsen müssen.
Streifli und Fläckli, zwei ungleiche Brüder
Das eine von ihnen ist rot getigert, furchtlos und neugierig. Das andere, rot gefleckt, ist vorsichtig und tapst seinem Katzenbruder hinterher. Streifli und Fläckli sind die Namen, die sie von Beatrice Putz und Albert Scheller bekommen.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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Putz ist Ärztin. Mit ihrem grauen Kurzhaarschnitt wirkt sie energisch. Jemand, der Ziele verfolgen kann. Scheller arbeitet als Systemadministrator. Von aussen Typ ruhender Pol – mit Dreitagebart und Brille, eher strategisch, bedacht. Das Haus, in dem sie wohnen, hätten sie nur wegen der Katzen gekauft, erinnern sie sich. Es liegt am Ende einer Sackgasse – ohne Durchgangsverkehr, der Katzen gefährlich werden könnte.
Sie spürten, dass etwas nicht stimmt
Am frühen Abend des 27. Februar 2021 ist es schon finster. Fläckli schleicht sich durchs Katzentürchen und wünscht schnurrend eine Streicheleinheit. Das sei ungewöhnlich gewesen, meinen Putz und Scheller. Denn üblicherweise sei Fläckli erst nach Streifli nach Hause gekommen. Doch an diesem Abend ist ihnen Streifli noch nicht um die Beine gestrichen, und sein Lieblingsplatz, die Lücke zwischen Computertastatur und Bildschirm, ist leer.
Sie hätten sofort gespürt, dass etwas nicht stimmt. Die zwei stapfen in die Nacht hinaus und streifen durchs Quartier. Die Luft ist erstaunlich lau. Frühling sei in der Luft gelegen, sagt Albert Scheller: «Auch bei schönem Wetter können die schlimmsten Dinge passieren.» Das sei bei ihnen schon oft so gewesen.
Mit einer Taschenlampe blenden sie unter jeden Container und jedes parkierte Auto. «Streifli! Streifli!» Sie suchen und rufen, bis ihre Finger und Zehen klamm sind, bis drei Uhr morgens. In dieser Nacht müssen sie ohne Streifli einschlafen. Und das ist fast unmöglich.
«Als hätte sie etwas zu verbergen»
Am nächsten Morgen hängen sie Plakate auf und melden Streifli bei der Tiermeldezentrale. Jeder im Quartier habe mitbekommen, dass sie auf der Suche nach ihrem Kater gewesen seien, erzählt das Paar. Auch wenn man hinter dicken Hecken und Mauern wohnt. So wie Familie Levander. Doch als Scheller sich vor deren Liegenschaft umschaut und der betagten Lisbeth Levander begegnet, habe sich diese abgewandt. «So, als hätte sie etwas zu verbergen.»
Streifli bleibt verschwunden. Putz und Scheller wollen Klarheit – auch wenn diese schmerzen könnte. Auf dem Polizeiposten wollen sie erfahren, ob jemand kürzlich eine überfahrene Katze gemeldet hat. Sie hinterlassen ihre Telefonnummer, damit man sie kontaktieren könnte, sollte es Neuigkeiten geben. Dann, nach einem erneuten Rundgang durchs Quartier, klingelt das Telefon. Der Unterhaltsdienst der Gemeinde hat eine tote Katze aus dem Pool der Familie Levander gefischt.
Der Vorwurf: fahrlässige Tierquälerei
Gut drei Jahre ist das her. Im Bezirksgericht Bülach hat Harald Levander Platz genommen. Neben ihm sein Anwalt – die Aktentasche zwischen sich und dem Stuhl von Albert Scheller. Neben Scheller sitzt Beatrice Putz, dann ihr Anwalt. Im Nacken dieser Fünferreihe: der Videojournalist und sieben weitere Medienschaffende.
Levander ist wegen fahrlässiger Tierquälerei angeklagt. Ihm droht eine bedingte Geldstrafe von 10'800 Franken. Er gibt leise Auskunft über sein Einkommen und seine Boni, rutscht auf dem Stuhl hin und her. Dem CEO ist das unangenehm. Seit rund vierzig Jahren gehöre das Haus der Familie. Mittlerweile lebe er mit seiner zweiten Frau dort. Im Erdgeschoss die 93-jährige Mutter. Noch nie sei so etwas passiert.
Vielleicht sei schon mal eine Maus ertrunken
Was er über die Katzenpopulation in seiner Nachbarschaft wisse, fragt die Richterin. «Wenig», meint Levander, der eigentlich anders heisst. Es gebe aber sicher einige Katzen. Ob es richtig sei, dass der Pool am 27. Februar 2021 nicht abgedeckt gewesen sei. Ja, das sei richtig. Ob es stimme, dass das Wasser im Pool nur zirka 60 Zentimeter hoch gestanden sei. Ja, das stimme. Ob er sich der Gefahren eines nicht abgedeckten Pools bewusst sei. Ja, das sei er. Ob in seinem Pool schon einmal ein Tier ertrunken sei. Noch nie eine Katze. Was dann? Vielleicht eine Maus. Amphibien.
18'000 Franken fordern Putz und Scheller von Levander. Affektionswert nennt man das; den Wert, den Halter ihrem Tier emotional beimessen. «Streifli war ein vollwertiges Familienmitglied», plädiert der Anwalt des Paares. Die Katze sei sehr zutraulich gewesen, habe auf ihren Namen gehört. Man habe die Hände ausstrecken können, und sie sei einem in die Arme gesprungen. Streifli habe auf dem Parkplatz auf Frau Putz gewartet, wenn sie von der Arbeit gekommen sei.
Und dann der Freispruch
Pause. Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück. Die Parteien treten hinaus in den Bülacher Nebel, der sie verschluckt und in einem Selbstbedienungsrestaurant wieder freigeben wird. Nach dem Mittagessen verkündet die Richterin das Urteil. Für einen kurzen Moment ist alles still.
Harald Levander wird vom Vorwurf der fahrlässigen Tierquälerei freigesprochen. Die Forderung von Putz und Scheller wird auf den Zivilweg verwiesen. «Auf Wiedersehen», sagt die Richterin.
Kopfschütteln ist alles, was Putz und Scheller gerade bleibt. Der Prozess hat vieles in ihnen aufgewühlt – und Erinnerungen geweckt. Wie sie an jenem Wochenende im Februar im Garten der Familie Levander standen. In den halb abgelassenen Pool schauten. Und sich vorstellten, wie ihr Kater an den rutschigen Fliesen abgerutscht sein musste. Wie er schwamm und paddelte, bis er vor Erschöpfung nicht mehr konnte. Wie jämmerlich er ertrank. Ihr Streifli.
Das Paar verharrt auf dem Flur des Bezirksgerichts. Rechts von ihnen sitzt ein Mann auf einer blank gescheuerten Bank. Den Kopf einer Frau zugewandt, flüsternd. Links von ihnen knetet eine weitere Frau unablässig ihre Hände, fährt sich über die Knöchel. Menschen mit Hoffnungen und Ängsten, die ihren Prozess noch vor sich haben.
Ein langer Kampf um Gerechtigkeit
Dass das alles so endet, kommt für Putz und Scheller völlig überraschend. Als sie Mutter und Sohn Levander vor fast vier Jahren anzeigten, wollte die zuständige Staatsanwältin erst gar nicht ermitteln. Doch sie beschwerten sich beim Obergericht – das feststellte, dass durch den ungesicherten Pool eine Gefahrenlage geschaffen worden sei, und Ermittlungen anordnete.
Die Staatsanwaltschaft erhob schliesslich Anklage gegen Harald Levander, dem die Liegenschaft mittlerweile gehört. Allerdings nur wegen fahrlässiger Tierquälerei, nicht wegen eines Vorsatzdeliktes, bei dem die in Aussicht gestellte Strafe sehr viel höher gewesen wäre.
Poolbesitzer ignoriert Hilfsangebot
Dabei hätten die Levanders den Pool kaum je abgedeckt und damit den Tod eines Haustiers einfach in Kauf genommen, sagt Scheller. Ja, sogar bis heute würden sie sich weigern, irgendwelche Sicherheitsmassnahmen zu ergreifen. «Wir haben sogar angeboten, ihnen dabei zu helfen. Es kam aber keine Reaktion.»
Und noch etwas sei ihnen wichtig: Das Geld, das sie von Harald Levander eingeklagt haben, hätten sie einer Tierschutzorganisation spenden wollen. «Wir wollten zeigen, dass auch Tiere einen Wert haben.» Das Urteil: «Ein Schlag ins Gesicht.» Harald Levander wollte gegenüber dem Beobachter keine Stellung nehmen.
Ein Crowdfunding und eine Vereinsgründung
Doch Streiflis Tod soll nicht vergebens gewesen sein. Beatrice Putz und Albert Scheller haben Berufung angemeldet. Das heisst, dass das Bezirksgericht Bülach als nächsten Schritt ein schriftliches Urteil verfassen muss. Ein Berufungsverfahren würde ihre finanziellen Möglichkeiten allerdings übersteigen, meint das Paar.
Sie haben in der Zwischenzeit ein Crowdfunding gestartet. Und im Jahr 2022 den Verein «TES – Tiere vor dem Ertrinken schützen» gegründet. Und eine Meldestelle eingerichtet, bei der sich betroffene Halter melden können. Auf einer Landkarte sind die bisher gemeldeten Fälle markiert. 19 Punkte, verteilt über die ganze Schweiz.
Die beiden wurden auch politisch aktiv, wandten sich an eine Kantonsrätin. Das Resultat ist ein Postulat. Das Ziel: Pools sollen – wie zum Beispiel Schächte – per Gesetz gesichert werden müssen. Sogar Fläckli sei nicht mehr derselbe, seit Streifli tot sei, meinen Putz und Scheller noch auf dem Flur des Bezirksgerichts. «Er wirkt in sich gekehrt. Er ist eine andere Katze.»