Immer mehr Attacken gegen Polizistinnen und Polizisten. Die neuste Kriminalstatistik zeigt: 3557 Straftaten von «Gewalt und Drohungen gegen Behörden und Beamte» wurden 2021 begangen – ein Rekordwert.
Doch dass Gewalt gegen Polizisten nicht erst seit der Corona-Pandemie existiert, zeigt die Karriere von Andreas Widmer (61). 38 Dienstjahre hat er bei der Zürcher Stadtpolizei verbracht. Und unzählige Extremsituationen erlebt: «Ich wurde mit Steinen beworfen, von vermummten Frauen eingekesselt, erlitt Schnittverletzungen – und auf dem Platzspitz gingen Drögeler mit Spritzen auf mich los», erzählt er Blick.
Am Stadelhofen mit Steinen beworfen
Auf einem Stadtrundgang berichtet er von den einschneidenden Erlebnissen seiner Karriere. Eines davon spielte sich vor rund 15 Jahren am Zürcher Bahnhof Stadelhofen ab. Es verfolgte ihn danach noch lange beim Einschlafen: «Nach einer Demo zerstreuten sich die Teilnehmer in der Stadt. Einige Vermummte versammelten sich beim Stadi. Es war Winter, spätabends, gegen 22 Uhr.»
Widmer und ein Kollege mussten in Zivil beobachten, wie sich die Situation entwickelt. «Und plötzlich flogen aus dem Dunkeln faustgrosse Steine von der Brücke, die über den Bahnhof führt, auf uns zu. Ein Stein rauschte haarscharf an meinem Kopf vorbei.»
Die Attacke am Stadi hinterlässt bei Widmer ein ungutes Gefühl, wenn immer er im Dunkeln agiert. «Das Thema war ab dann für mich immer schwierig – vor allem nächtliche Einsätze in dunklen Räumen. Ich sehe nicht, was mich erwartet. Ich habe nicht alles unter Kontrolle.»
2 Polizisten gegen 30 Frauen
Einen guten Kilometer nördlich vom Bahnhof Stadelhofen, beim Central, hatte Widmer ein weiteres Erlebnis mit Vermummten: «Es war eine Demo an einem Frauenkampftag. Eingangs Niederdorfstrasse kesselte eine Horde mich und einen Kollegen ein.» Zwei Polizisten gegen rund 30 grösstenteils vermummte Frauen. «Einige machten Drohgebärden. Andere spuckten uns an. Wir wurden von diesen Amazonen genötigt und umzingelt.»
Doch Widmer und Partner bleiben ruhig und harren aus. Nach ein paar Minuten löst sich der Kreis auf. «Wir waren machtlos», so Widmer.
«Ich durfte nicht auf ihn schiessen»
Deutlich näher an einer Schussabgabe auf sein Gegenüber war Widmer bei einem Einsatz bei einem Juweliergeschäft in der Gerbergasse. «Dort wurde eine Scheibe eingeschlagen. In einem schwarzen Golf sah ich einen Mann, der einen Hammerstiel versteckte», erinnert sich der gebürtige St. Galler. «Für mich war klar, dass er der Juwelendieb ist.»
Widmer fackelte nicht lange und richtete seine Dienstpistole auf den Mann. «Ich musste oft in meiner Karriere die Waffe zücken.» Doch als Widmer in besagter Nacht in der Gerbergasse die Knarre hervorholt, braust der Golf davon. «Ich durfte nicht auf ihn schiessen. Denn er richtete keine Waffe direkt auf mich.»
Und dabei bleibt es auch: In seiner gesamten Polizistenkarriere schiesst Widmer auf keinen Demonstranten oder Delinquenten. Mit anderen Schüssen hat er dennoch viel zu tun. Und zwar mit goldenen – in der Drogenhölle Platzspitz. Späte 80er-, frühe 90er-Jahre. Heroin, Hilflosigkeit. Und für Widmer ist es dort immer wieder brenzlig geworden. «Etwa, wenn Drögeler, die auf dem ‹Aff›, also Entzug, waren, schreiend mit Spritzen auf uns losgingen.» Auch wenn er von Drögelern immer wieder angegangen oder «angefickt» worden sei und auch sonst unzählige Extremsituationen erlebt habe, habe er nie jemanden angezeigt, so Widmer. «Ich bin keine Mimose.»
«Hilfe holen, bevor Depression dich ruiniert»
Und genau weil Drögeler, Demo-Chaoten und Diebe es auf die Polizisten abgesehen hätten, bestehe die Gefahr, dass man selbst den Alltag übertrieben wahrnehme, erklärt Widmer. «Man kann paranoid werden, weil man immer potenzielle Feindbilder sieht.» Sein Rezept dagegen: «Distanz, Abgrenzung, Rückzug. Ich schaffte mir eine Parallel-Welt: Sport und Kunst.»
Dank dieser Parallelwelt habe er es geschafft, nie psychische Probleme zu bekommen. Er rät: «Hilfe holen, bevor eine Depression dich ruiniert.» Überdies habe ihm diese Parallelwelt auch geholfen, den Polizistenberuf bis zuletzt zu lieben. «Doch irgendwann hatte ich genug.» Widmer kündigt im April 2020 bei der Stadtpolizei und geht in Frührente.
Mit Vorträgen und selbst verfassten Büchern will der 61-Jährige jetzt Erlebnisse, Erfahrungen und sein Credo weitergeben: «Ich wurde Polizist, weil ich die Gegenseite durchleuchten wollte. Ich wollte die richtige Methodik anwenden, um Verbesserung und Verständnis zu erzielen. Ich habe das Gefühl, einen vermittelnden Charakter und eine pragmatische Vorgehensweise zu besitzen. Ich wollte Brückenbauer sein.»