Am Mittwochmorgen stand Physik-Doktorand Martin S.* (29) vor dem Bezirksgericht Zürich. Die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft passen so gar nicht zur akademischen Karriere: S. soll 2019 im Niederdorf mit 15 bis 20 Kumpels eine Gruppe Männer verprügelt haben. Ausserdem beteiligte er sich laut Anklage an Ausschreitungen am G20-Gipfel in Hamburg (D) 2017, sei teil eines linksextremen Mobs gewesen. Ihm drohte eine bedingte Haftstrafe.
Die Beweislage reichte für eine Verurteilung jedoch nicht aus. Martin S. wurde sowohl bezüglich der Schlägerei im Niederdorf als auch wegen der angeblichen Beteiligung an den G20-Krawallen in Hamburg freigesprochen.
Vor dem Bezirksgericht Zürich hatten sich am Mittwochmorgen rund 60 Personen zu einer Kundgebung für den Angeklagten versammelt. Die Stimmung war aufgeheizt. «Überall Antifa», stand auf einem Transparent. Nach und nach tauchte auch immer mehr Polizei vor dem Gerichtsgebäude auf. Die Beamten führten Personenkontrollen durch, beschlagnahmten die Lautsprecheranlage der Demonstranten und lösten die Kundgebung auf.
Flasche auf Kopf von Opfer zertrümmert?
Der Niederdorf-Angriff hatte sich im September 2019 ereignet (BLICK berichtete): Ein Mob junger Männer, vermummt mit Kapuzen und Motorradhelmen, stürmte durch die Gassen. Mit dem Schlachtruf «Antifa» stürzten sich die Angreifer laut Anklage dann auf ihre Opfer: eine Gruppe junger Männer, die gerade einen Junggesellenabschied feierten. Mit Veloketten, Flaschen und Pfeffersprays prügelte der Mob einige der Männer spitalreif.
Der angeklagte Akademiker war laut Anklage an vorderster Front dabei: Er habe einem der Opfer eine Glasflasche so heftig auf den Hinterkopf geknallt, dass diese zerbrach!
«Eines gebildeten Menschen nicht angemessen»
Vor Gericht verweigerte Martin S. die Aussage. Er schien bestens gelaunt, hatte ein Grinsen im Gesicht. Gefühlte 50 mal wiederholte er: «Ich verweigere die Aussage.» Dieses Verhalten missfiel dem Richter. «Ich danke Ihnen für die aufschlussreichen Antworten», sagte er genervt. Erst beim Schlusswort wurde der Angeklagte gesprächiger. Statt um die angeklagten Delikte drehten sich seine Aussagen aber um den historischen Kampf gegen den Faschismus, die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, die «Disziplinierung des weiblichen Körpers» oder die «Stigmatisierung des Islam».
Nach einer Ermahnung des Richters wurde der Angeklagte doch noch konkreter. Es sei noch nicht lange her, dass Nazis im Niederdorf ungehindert verkehrt seien, sogar Stammbeizen gehabt hätten. «Man muss jede faschistische Präsenz auf den Strassen bekämpfen, egal wie klein sie ist.» Die Tat im Niederdorf könne er darum «politisch nur gutheissen». Martin S.: «Es war das einzig Richtige».
Der Staatsanwalt sieht das anders. «Ein solches Verhalten ist eines gebildeten Menschen nicht angemessen, sondern einfach nur verabscheuungswürdig», sagte der.
Angebliche Neonazis «vermöbelt»
Nach der Attacke im Niederdorf kursierte ein Bekennerschreiben von Linksextremen. Bei den Opfern habe es sich um Neonazis gehandelt, die man «vermöbelt» habe. Zu BLICK sagt einer der Polterabend-Teilnehmer jedoch, der Angriff sei völlig unvermittelt gekommen: «Wir zeigen nicht einfach mitten am Nachmittag in Zürich den Hitlergruss!» Die Staatsanwaltschaft sagte dazu: «Ob rassistische Sprüche gefallen sind, konnte trotz Ermittlungen nicht eruiert werden.»
Sogar noch gewalttätiger waren die Krawalle am Rand des G20-Gipfels in Hamburg im Juli 2017 – dem zweiten Anklagepunkt gegen den ETH-Studenten. Über 1000 Chaoten plünderten und verbrannten, was ihnen in die Quere kam. Ein Polizeisprecher sagte damals: «Wir haben noch nie so ein Ausmass an Hass und Gewalt erlebt.»
Auch hier sei der ETH-Doktorand mittendrin gewesen – im Schwarzen Block. Welche Rolle Martin S. bei den Krawallen genau spielte, weiss der Staatsanwalt nicht. Allein die Anwesenheit im Mob reichte jedoch für eine Anklage. Vorwurf: Landfriedensbruch. S. soll «Teil der öffentlichen Zusammenrottung» gewesen sein, so die Anklage.
Dass das Verfahren nun im Paket mit dem Vorfall im Niederdorf vor einem Zürcher Gericht landete, erklärt die Staatsanwaltschaft so: «Der Hamburger Fall wurde von Deutschland an die Schweiz übergeben, weil der Täter in der Schweiz wohnt respektive Schweizer ist und er daher nicht an Deutschland ausgeliefert werden kann.»
Direkte Täterschaft war nicht nachweisbar
Martin S. drohten 18 Monate Gefängnis bedingt, unter anderem wegen versuchter schwerer Körperverletzung und Landfriedensbruchs. Die Verteidigung fordert einen Freispruch.
«Man sieht bei beiden Sachverhalten, dass der Beschuldigte dabei war», sagte der Richter bei der Urteilseröffnung. «Er hat heute auch zum Ausdruck gebracht, dass er sich nicht distanziert.» Eine rechtsgenügende Feststellung einer strafrechtlichen Beteiligung liege aber nicht vor. Bei der Tat im Niederdorf sei er wohl vor Ort gewesen, das sei anhand der DNA belegt worden. «Das ist aber auch alles», sagte der Richter. Die Beweise reichen dem Gericht zufolge nicht, um den Schlag mit der Flasche zu beweisen. «Nichts deutet auf eine direkte Täterschaft hin.»
Auch inwiefern sich der Angeklagte in Hamburg «mit gewalttätigen Gruppen zusammentat, lässt sich nicht feststellen», sagte der Richter. Es gebe nicht genügend Anhaltspunkte. Der Angeklagte wurde in beiden Punkten freigesprochen.
* Name geändert
Das Polizeiaufgebot für den G20-Gipfel in Hamburg (D) war gross: 20'000 Polizisten sollten am 7. und 8. Juli 2017 die Staats- und Regierungschefs beschützen. Es reichte nicht. Tausende gewaltbereiter Demonstranten überrumpelten die Staatsmacht. In mehreren Stadtteilen wurden Geschäfte geplündert und verwüstet, Autos abgefackelt. Hunderte Polizisten und eine unbekannte Anzahl Demonstranten wurden verletzt. Die Sachschäden ging laut Schätzungen in die Millionen.
Es folgte ein Aufschrei der Empörung. Die Soko «Schwarzer Block» fahndete nach Krawallmachern im In- und Ausland. Dabei gerieten auch mehrere Schweizer ins Visier der Ermittler. Ein Zürcher Szene-Beizer wurde für einen Flaschenwurf verurteilt.
Insgesamt wurden mehrere Tausend Verfahren eingeleitet, auch fast 160 Polizisten mussten sich vorwerfen lassen, Grenzen überschritten zu haben. Michael Sahli
Das Polizeiaufgebot für den G20-Gipfel in Hamburg (D) war gross: 20'000 Polizisten sollten am 7. und 8. Juli 2017 die Staats- und Regierungschefs beschützen. Es reichte nicht. Tausende gewaltbereiter Demonstranten überrumpelten die Staatsmacht. In mehreren Stadtteilen wurden Geschäfte geplündert und verwüstet, Autos abgefackelt. Hunderte Polizisten und eine unbekannte Anzahl Demonstranten wurden verletzt. Die Sachschäden ging laut Schätzungen in die Millionen.
Es folgte ein Aufschrei der Empörung. Die Soko «Schwarzer Block» fahndete nach Krawallmachern im In- und Ausland. Dabei gerieten auch mehrere Schweizer ins Visier der Ermittler. Ein Zürcher Szene-Beizer wurde für einen Flaschenwurf verurteilt.
Insgesamt wurden mehrere Tausend Verfahren eingeleitet, auch fast 160 Polizisten mussten sich vorwerfen lassen, Grenzen überschritten zu haben. Michael Sahli