Seit einer Woche ist das Kesselhaus im Zürcher Kreis 10 von Aktivistinnen und Aktivisten okkupiert. Das Gebäude gehört dem Elektrizitätswerk der Stadt Zürich, das Strafanzeige eingereicht hat. Morgen soll das Areal polizeilich geräumt werden. Am Donnerstag veranstalteten die Besetzer dort eine Podiumsdiskussion. Sie forderten mehr günstige Wohnungen und kulturelle Freiräume. Christian Schmid, Professor für Geografie, Soziologie und Stadtplanung der ETH Zürich, sass mit auf dem Podium.
SonntagsBlick: Herr Schmid, haben Sie schon einmal ein Haus besetzt?
Christian Schmid: (Lacht.) Ja. In den frühen 1980er-Jahren.
Was war der Grund?
Können wir später darauf zurückkommen?
Sie haben am Donnerstag am Podium teilgenommen – im Kesselhaus des EWZ. Ein Kollektiv besetzt dieses Gebäude seit letztem Sonntag. Warum solidarisieren Sie sich mit diesen Leuten?
Ich war Teilnehmer einer öffentlichen Veranstaltung. Die war seit längerer Zeit geplant. Organisiert hatten es die «Wochenzeitung» («WoZ»), Vertreter des Koch-Areals und der Zentralwäscherei. Ich diskutiere mit allen, die mich einladen. Zudem werfen die Besetzerinnen und Besetzer wichtige Fragen auf.
Sie kritisierten den Umgang mit städtischem Wohnraum.
In Zürich gibt es eine massive Welle von Wohnungsabbrüchen. Dabei sind viele Wohnungen noch gut erhalten – sie sind günstig und bieten eine gute Lebensqualität. Nun entsteht eine enorme Wohnungsknappheit und entsprechend steigen die Mieten. Viele Leute werden aus der Stadt verdrängt.
Die Stadt Zürich wird doch rot-grün regiert!
Das ist oft nicht mehr als ein rot-grünes Mäntelchen. Die Stadtregierung unternimmt nichts gegen Wohnungsabbrüche. Dadurch wird eine soziale und ökologische Krise ausgelöst. Der Neubau von Häusern ist weltweit die wichtigste Quelle von CO₂-Emissionen. Zudem mangelt es in Zürich an kulturellen Freiräumen, an Orten für Kreativität oder Start-ups.
Zürich hat soziale und nachhaltige Projekte. Bis 2050 will man ein Drittel des Wohnraums allgemeinnützig gestalten.
Das unterstütze ich, es genügt aber nicht. Damit verpassen wir die Klimaziele bei weitem. Auch bleiben sozial Schwache auf der Strecke. Wir müssen mit den bestehenden Häusern neue Wege finden, anstatt sie abzureissen. Das ist im Übrigen ein weltweites Problem.
Zurück zum EWZ: Die Besetzung ist illegal und das Elektrizitätswerk Zürich hat Strafanzeige wegen Hausfriedensbruch gegen unbekannt eingereicht. Müssten Sie sich als ETH-Professor mit Ihrem Aktivismus nicht zurückhalten?
Ich habe nicht als ETH-Professor an dieser Veranstaltung teilgenommen. Ich habe als Forscher und Stadtbewohner gesprochen. Ich möchte mit den Leuten diskutieren.
Bei der Podiumsdiskussion teilten Sie die Forderungen der Besetzer. Überschreiten Sie da als ETH- Professor nicht eine Grenze?
Ich betreibe Forschung und versuche Lösungen aufzuzeigen, um aus der gegenwärtigen ökologischen und sozialen Krise herauszugelangen. Teilweise deckt sich das mit den Forderungen der Besetzer. Ich wüsste nicht, wo da eine Grenzüberschreitung stattfinden soll.
Die Lausanner Ökonomieprofesso- rin Julia Steinberger beteiligt sich an Klimademos und klebt sich auf der Strasse fest. Warum werden Professoren zunehmend aktivistisch?
Ich bin Geograf und sehe, wie der Klimawandel sich beschleunigt. Ich bin Soziologe und sehe, wie sich die sozialen Probleme verschärfen. Ich bin Stadtforscher und sehe, in welche Richtung sich unsere Städte verändern. Forscherinnen und Forscher machen seit Jahren darauf aufmerksam. Und wir sind jetzt einfach an einem Punkt angelangt, wo es wirklich brennt. Die Krise ist da – und zwar weltweit.
Bei der Veranstaltung im Kesselhaus sagten Sie: «Das ist kein Kampf für ein paar Wohnräume oder kulturelle Freiräume, sondern das ist ein Kampf für eine andere Welt.» Was genau meinen Sie damit?
Wir müssen uns wirklich für eine andere Welt einsetzen. Wir können nicht so tun, als ob ein paar kosmetische Veränderungen genügen. Wir stehen in einer Krise. Und das braucht Antworten. Unabhängig vom politischen Standpunkt müssen wir handeln.
Während des Podiumsgesprächs schrie ein Vertreter des Koch-Areals Parolen wie «Kommt die Stadt nicht unseren Forderungen nach, fliegen Steine und Fäuste». Das ist ein Aufruf zur Gewalt. Warum haben Sie nicht interveniert?
Es liegt nicht an mir, jemanden zurechtzuweisen. Ich war Diskussionspartner. Kein Ordnungshüter.
Sehen Sie Gewalt als legitimes Mittel, um die Klimaziele zu erreichen?
Ich rufe selbstverständlich nicht zu Gewalt auf. Wir müssen die Leute mit Argumenten überzeugen.
Verurteilen Sie, was der Vertreter des Koch-Areals gesagt hat?
Sie picken einen einzelnen Satz aus einer konstruktiven Diskussion, die nicht aufgeheizt war. Ich habe viel dabei gelernt. Es gab keinen Grund einzugreifen. Er wollte damit eine Dringlichkeit ausdrücken.
Halten Sie Hausbesetzungen für zielführend?
Ich komme auf Ihre erste Frage zurück. Ich war Teil der 80er-Bewegung. Zürich hat dieser Bewegung viel zu verdanken. Sie hat das soziale und kulturelle Leben verändert und neue urbane Qualitäten geschaffen. Ohne diese Bewegung wäre 1990 keine rot-grüne Regierung entstanden, die bis heute anhält. So etwas kann man mit Petitionen nicht erreichen. Wir sollten nicht vergessen, woher wir kommen.
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