Am Wochenende lieferten sich Linksextreme bei einer unbewilligten Demonstration eine Strassenschlacht mit der Polizei. Wir sprachen mit dem Szenekenner Andreas Widmer (62). Er war 25 Jahre lang bei der Stadtpolizei Zürich Spezialist für Demonstrationen der Linksautonomen und schrieb über seine Arbeit das Buch «Scheiss Bullen».
Herr Widmer, gerade traf es Zürich, vor einigen Wochen gleich zweimal hintereinander Basel – Kundgebungen eskalieren. Hat die Gewaltbereitschaft zugenommen?
Andreas Widmer: Nein, wir kennen das von den WEF- und 1.-Mai-Demos. Wir können sogar froh sein, dass es bei uns nicht noch schlimmer ist. Denken wir an die RAF-Zeit. Doch was wohl stimmt: Die Häufigkeit der Ausschreitungen hat zugenommen.
Die Basler Sicherheitsdirektorin sagte im Nachgang, es brauche «mehr Dialog», um eine Eskalation zu verhindern. Reicht das, um brenzlige Situationen zu entschärfen?
Es gibt Gemässigtere, die mit sich reden lassen. Einzelne kann man ansprechen. Wenn auch nur, um eine wichtige Information der Polizei dem militanten Kreis zukommen zu lassen. Manchmal ist das nicht möglich. Der Schwarze Block in Zürich redet nicht mit der Polizei. Für die sind wir Schergen des Unrechtsstaates.
Wie war es am Samstag in Zürich?
Da war die Eskalationsstufe schon hoch. Man konnte ahnen, dass es knallt.
Woran machen Sie das fest?
Sie kamen schon vermummt. Wollten also nicht identifiziert werden. Es war offenbar eine Reclaim-the-Streets-Aktion (Anm. Red.: Eine Aktion der linksextremen Subkultur). Wenn sie dann noch abends losziehen, weiss man als Polizist: Die wollen Krawall, Eskalation.
Steht dahinter blinde Wut?
Nicht nur. Ohne Krawall bekommen sie keine Aufmerksamkeit für ihre Themen. Um das geht es ihnen: Sie wollen, dass die Presse darüber schreibt, dass sie im Gespräch sind. Deshalb gehen sie auch unter anderem am 8. März, am Frauenkampftag, und am 1. Mai auf die Strasse.
Nun monieren manche in den sozialen Medien, die Polizei habe in Zürich mit Gummischrot etc. die Situation verschärft. Diese Kritik kommt häufig in den letzten Jahren. Zu Recht?
Dies ist situativ schwierig zu beurteilen. Der Einsatz von Gummischrot und Wasserwerfer darf nur das letzte Mittel sein.
Und doch kommen solche Mittel oft zum Einsatz.
Machen wir uns nichts vor. Wenn die ersten Scheiben klirren, geht es nicht anders. Dann weiss man: Jetzt wird es heftig. Da ist die Gefahr gross, dass der Schaden noch grösser wird, wenn die Polizei nicht eingreift. Sie versucht aber schon vorher, alles zu tun, damit es nicht eskaliert.
Und wie?
Immer wenn ein Demo-Zug mit Radikalen gestoppt wird, gibt es Probleme. Wenn ich gespürt habe, dass die Demonstranten einfach von A nach B gehen wollten, liessen wir sie laufen. Doch nicht alle sehen, was es braucht. Manchmal ist nicht der beste Mann für eine Lageeinschätzung zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Wie kamen Sie zu Ihrem Gespür?
Ich liess mich auf die Menschen ein. Ich hörte unter anderem intensiv das linksalternative Radio Lora. Das war meine Hausaufgabe. Ich wollte verstehen, wie sie ticken, was ihre Anliegen sind.
Was treibt die Demonstrierenden in Zürich an?
Wir haben eine Wohnungsknappheit, verbunden mit der Stadtaufwertung, das Klima bewegt die Jungen, der Krieg, die Krankenkassenprämien sind hochgeschnellt, allgemein steigen die Preise. Und nicht zu vergessen: Während Corona war lange die Freiheit der Menschen eingeschränkt. Die Demos sind ein Ventil.
Sie können die Ursache für die Demos nachvollziehen?
Dahinter verbergen sich Anliegen, die auch mich beschäftigen. Dass die Ausschreitungen so heftig sind, ist also kein Zufall.
Was bräuchte es, um in Zürich die Situation zu befrieden?
Das hat die Polizei nicht in der Hand. Sie leidet selbst unter der Situation.
Das Bundesamt für Statistik registrierte 2021 rund 3500 Straftaten gegen Beamte, die tätlich angegriffen oder bedroht wurden – 1000 Fälle mehr als noch vor zehn Jahren.
Die Stadtpolizei hat nicht umsonst eine hohe Fluktuation, sucht ständig Leute. Viele wollen ihren Kopf nicht mehr hinhalten. Dann gehen sie aufs Land, wo sie fast gleich viel verdienen, geregelte Arbeitszeiten haben, und es ruhiger zu und hergeht.
Was würde also allen helfen?
Die Jungen wollen Autonomie. Doch überall, wo sie sich momentan entfalten, werden sie durch das ‹Bonzentum› zerdrückt. Es braucht Raum, in dem sie sich austoben können. Die Städte müssen Platz schaffen. Eigentlich müsste es in Zürich immer eine Hochburg geben, wie die Reithalle in Bern.