Zu viele Todesfälle in der Schweiz
Experten rätseln wegen anhaltend hoher Übersterblichkeit

Ein beunruhigender Trend zieht sich durch das Jahr 2022: In der Schweiz sterben deutlich mehr Menschen als erwartet. Laut Statistik spielt Corona dabei kaum eine Rolle mehr. Doch die Zahlen könnten täuschen.
Publiziert: 28.10.2022 um 12:29 Uhr
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Aktualisiert: 28.10.2022 um 15:51 Uhr
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In 24 von 41 Wochen in diesem Jahr gab es eine Übersterblichkeit in der Schweiz.
Foto: Keystone

Übersterblichkeit – davon spricht man, wenn mehr Menschen sterben, als es gemäss Statistik zu erwarten ist. Die Schweiz verzeichnet im Jahr 2022 eine auffällige Übersterblichkeit: Von den Personen, die älter als 65 Jahre sind, sind bislang 4500 mehr als erwartet gestorben.

In 24 von 41 Wochen gab es dieses Jahr eine Übersterblichkeit. Wenn dieser Trend in den kommenden Monaten anhält, könnte das Jahr 2022 mit einer beispiellos hohen Mortalität in die Geschichte eingehen, wie der «Tages-Anzeiger», basierend auf der Sterblichkeitsstatistik des Bundesamts für Statistik (BFS), berichtet.

15'000 Tote mehr als erwartet

Die zwei Hauptverdächtigen für diese Entwicklung: Covid-19 und der Hitzesommer. Bereits im ersten Pandemiejahr starben überdurchschnittlich viele: In der Schweiz gab es 7600 zusätzliche Tote. Rechnet man die Todesfälle der vergangenen 2,5 Jahre zusammen, so steht man vor einer besorgniserregenden Zahl: 15'000 Tote mehr als erwartet. Davon betroffen sind nahezu ausschliesslich die Altersgruppe der über 65-Jährigen. Bei den jüngeren Personen gab es in den vergangenen Jahren keine auffällige Übersterblichkeit.

Experten rätseln über die Gründe, vor allem die Übersterblichkeit bei den über 65-Jährigen erstaune ihn, sagt Martin Röösli, Epidemiologe am Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Institut in Basel zum «Tages-Anzeiger». Gemäss Röösli sind die Sommerhitze sowie das erhöhte Risiko für Komplikationen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen nach einer Covid-Infektion mögliche Auslöser der vielen Todesfälle.

Allerdings müsse Corona nicht die alleinige Ursache für Todesfälle sein. «Zum Beispiel könnten Personen nach einer Covid-Erkrankung empfindlicher auf Hitze, Infekte oder andere Ereignisse reagieren.» Auch infrastrukturelle Faktoren will Röösli nicht ausschliessen: Der Pflegenotstand und die schlechtere medizinische Versorgung könnten ebenfalls eine Rolle bei der erhöhten Mortalität spielen.

Bundesamt für Statistik rätselt ebenfalls

Blickt man allerdings auf die offiziellen Zahlen des Bundesamts für Gesundheit (BAG), so macht es den Eindruck, als ob die ausgewiesenen Corona-Todesfälle keine Rolle für die hohe Übersterblichkeit spielen – nicht einmal im Ansatz. Schliesslich verzeichnet das Amt seit Mai ausserordentlich wenige Corona-Tote: Im Schnitt sind es zwei bis drei Tote am Tag.

Gegenüber dem «Tages-Anzeiger» nimmt das Bundesamt für Statistik (BFS) Stellung dazu: «Ein Grund für die zunehmende Diskrepanz könnte eine Abnahme der Meldecompliance im Rahmen der meldepflichtigen Infektionskrankheiten sein.» Heisst konkret: Es könnte sein, dass Covid durchaus die Übersterblichkeit antreibt, insbesondere weil bereits durch anderen Krankheiten geschwächte Personen damit schneller sterben. Weil in Spitälern weniger getestet werde, so die Vermutung des BAG, könnte dieser Zusammenhang in der Statistik fehlen.

Zwei Bundesämter, zwei Statistiken

Schon die Todesursachenstatistik aus dem Jahr 2020 des BFS zeigte: Es gab deutlich mehr Corona-Todesfälle, als das BAG ursprünglich ausgewiesen hatte. Der Grund für die Differenz: Das BAG stützt sich auf das Meldesystem aus der medizinischen Praxis und gibt seine Daten unter Zeitdruck bekannt. Die Sterbe-Statistiken des BFS hingegen basieren auf Angaben der Zivilstandsämter, denen die Ärztinnen und Ärzte mit dem Todeszertifikat die Haupttodesursache und die Begleitkrankheiten melden.

Aufschluss über die Ursachen der aktuellen Übersterblichkeit wird also erst die BFS-Statistik für das Jahr 2022 geben. Mit dieser kann man aber erst frühestens in rund eineinhalb Jahren rechnen. (bab)

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