Schon wieder krachten gestern Steine auf die neu sanierte Strasse in Kehrsiten NW! «Kaum setzt über mehrere Tage Regen ein, passiert das, was seit jeher passiert: Steine lösen sich entlang der Felswand unterhalb der neu installierten Steinschlagnetze», sagt Erika Roth (57). Sie ist gestern als Erste auf die Sturzstelle getroffen und fassungslos.
«Die neu sanierte Kehrsitenstrasse hält den Herausforderungen nicht stand. Die bröckelnde Felswand hätte ebenfalls ein engmaschiges Netz benötigt, was der Kanton allerdings nicht für nötig befand. Aber die Experten sanieren lieber an den Bedürfnissen vorbei», so Roth. Bilder belegen eindrücklich, was hätte passieren können, wäre jemand zum Zeitpunkt des Felsbruchs auf der Strasse unterwegs gewesen.
Kanton beschwichtigt
Der Kanton Nidwalden äusserte sich am Donnerstagnachmittag zum Vorfall: «Der Kanton bestätigt, dass am Mittwochnachmittag auf einem kurzen Abschnitt der Kehrsitenstrasse Steine gelegen sind. Die Fahrbahn musste deswegen nicht gesperrt werden. Es handelte sich nicht um grosse Steine. Ein Augenschein der Polizei vor Ort kurz nach Eingang der Meldung ergab, dass keine Massnahmen notwendig sind», liess er durch einen Sprecher ausrichten.
Mutmasslich habe der Dauerregen dazu geführt, dass kleinere, lose Steine im Hang oberhalb der Strasse zu Tal gerutscht seien. Dies sei auf exponierten Strassen mit Hanglagen und steinigem Gelände oberhalb der Fahrbahn nicht aussergewöhnlich. «Der Kanton Nidwalden hat ein Geologiebüro beauftragt, die Situation vor Ort eingehender zu prüfen. Zurzeit wird von keiner erhöhten Gefahr für die Strassennutzerinnen und -nutzer ausgegangen.»
Hintergrund: Mit einem Millionen-Bauprojekt hat der Kanton Nidwalden über zwei Jahre eine Strasse in Kehrsiten saniert. Ziel war es, des gefährlichen Steinschlags Herr zu werden. Die Bauarbeiten erschwerten den Anwohnern das Leben massiv. Blick erzählten sie von lebensgefährlichen Zuständen.
Stein aufs Dach
Trotz der Sanierung ist bereits vor zwei Wochen ein Felsbrocken mit den Massen von 60 auf 40 auf 20 Zentimetern runtergeknallt. Er fiel von der Felswand ab, die unmittelbar neben der Strasse liegt und landete auf der Badehütte von Anwohner Clemens Otto (65). «Wenn hier ein Mensch gestanden wäre, hätte der das nicht überlebt», sagte dieser damals.
Der Kanton reagierte auf den Vorfall und zog bereits da ein Geologiebüro bei, das das betroffene Gelände untersuchte. Vergangene Woche hat die Baudirektion Nidwalden die Ergebnisse der Geologen mittels Infoschreiben an sämtlichen Haushalte in Kehrsiten zukommen lassen – und beruhigte darin die Bevölkerung.
Im Schreiben steht unter anderem, dass der Sturzverlauf des Steins auf den untersten Metern die Spezialisten erstaunt hätte. Es wurde keine Ausbruchsstelle gefunden, die eindeutig dem Ereignis habe zugeordnet werden können. Die Spezialisten gingen davon aus, dass der Steinblock nicht mit grosser Wucht aufschlug, weil die Balken des Daches nicht komplett durchgeschlagen wurden. Zudem hätten die Experten keine Aufschlagspuren und auch keine Beschädigungen am neu erstellten Strassengeländer gefunden. Die Behörden rätseln also noch immer, wie der Stein aufs Dach gekommen ist.
Kanton sieht keine erhöhte Gefahr
Es stellt sich darum auch die Frage: Wurde der Stein absichtlich aufs Dach geworfen? Daran glaubt Anwohner Otto nicht: «Das Risiko, das jemand eingehen würde, der einen Stein mutwillig herunterschmeisst, wäre riesig. Diese Person wäre ein Mörder, wenn sie beispielsweise einen Velofahrer oder eine Fussgängerin treffen würde!», erklärt er.
Und trotzdem lautet das Fazit, das der Kanton aus der Untersuchung zieht: «Die Spezialisten kamen zum Schluss, dass für die Strassennutzerinnen und -nutzer keine erhöhte Gefahr besteht und eine temporäre Sperrung nicht angezeigt ist.»
Blick liegen die Untersuchungsergebnisse der Geologen vor. Darin ist von Entwarnung keine Rede. Sie kommen zum Schluss, dass in der oberen Hälfte zwischen See und Felswand das Terrain eine schwach ausgeprägte Runse bildet, «welche Sturzkörper etwas zu kanalisieren vermag». Und: «Durch diese Runse stürzende Körper werden ziemlich genau in den Bereich des Badehauses geleitet. Über den gesamten Hangbereich sind immer wieder lose herumliegende Steine und kleinere, seltener auch grössere Blöcke festzustellen.»
Schon mehrfach sei es an ebendieser Stelle zu Steinschlägen gekommen, bestätigte Clemens Otto Blick bereits vergangene Woche. Die beiden grössten Felsbrocken stehen bei ihm im Vorgarten – als Mahnmal für die Gefahr.
Zwei Ausbruchsszenarien möglich
Die Untersuchung der Spezialisten ergab, dass wohl zwei Ausbruchsszenarien infrage kommen. Erstens: Der Ausbruch des Felsbrockens passierte rund 60 Höhenmeter über der Kehrsitenstrasse aus einer Felswand. Als Ursache seien natürliche Verwitterungsprozesse anzunehmen. Als Sturzbahn diente die Runse. Zweitens: Der Felsbrocken lag im steilen Waldbereich und wurde durch Wildwechsel oder Wind ausgelöst.
Die Spezialisten stellen also tatsächlich einen ungewöhnlichen Vorgang fest. Aber: Ihr Bericht schliesst theoretisch weitere Felsausbrüche nicht aus.
Für Clemens Otto drängt sich darum die Frage auf, nach welchen Kriterien die Felssicherungs- und Steinschlagschutzmassnahmen geplant wurden. Er sagt: «Der Kanton beschwichtigt immer wieder. Dort ist alles im grünen Bereich bis zum ersten Verletzten oder Toten.»