Hier wird während der Sanierung ein Felsen gesprengt
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Lebensgefährlicher Heimweg:Hier wird während der Sanierung ein Felsen gesprengt

Behörden vergassen bei Strassensanierung Erika Roth (57) und Clemens Otto (65) in Kehrsiten NW
«Während wir die Baustelle durchquerten, fiel Gestein herunter!»

Erika Roth und Clemens Otto leben in Kehrsiten NW, einem fast unberührten Kleinort am Vierwaldstättersee. Als der Kanton entschied, die Zufahrtsstrasse in ihr Dorf zu sanieren, begann für die beiden eine traumatische Zeit, die bereits seit Jahren anhält.
Publiziert: 02.09.2022 um 00:26 Uhr
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Aktualisiert: 02.09.2022 um 08:36 Uhr
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Baustellenwahnsinn in Kehrsiten NW: Über dieses Geröllfeld mussten Bewohner klettern.
Foto: zVg
Tobias Ochsenbein

Erika Roth (57) und Clemens Otto (65) mussten fast täglich um ihr Leben fürchten. Der Grund: die Sanierung der Zufahrtsstrasse zu ihrem Wohnort in Kehrsiten NW. Zweimal sechs Monate lang hatten sie den gefährlichsten Heimweg der Schweiz! «Wir wurden von den Behörden genötigt, eine gesperrte Baustelle unter Lebensgefahr zu durchqueren», sagen sie zu Blick. Verarbeitet haben die beiden ihre Leidenszeit noch nicht. «Wir können es bis heute nicht glauben.»

Das Leiden von Roth und Otto nahm 2018 seinen Anfang. Der Kanton wollte die Kantonsstrasse zwischen Stansstad NW und Kehrsiten-Dorf sanieren. Es ist die einzige Zufahrtsstrasse in den idyllischen Kleinort am Vierwaldstättersee. Die Strasse ist schmal und von steilen Felsen umgeben. Die einzige Alternative ist der Seeweg.

Um die Bevölkerung besser vor Steinschlag zu schützen, sollten Strassen-, Felsräumungs- und Vorbereitungsarbeiten für die Montage von Steinschlagnetzen ausgeführt werden. Für die Zeit der Bauarbeiten in zwei Etappen, in den Winterhalbjahren 2020/21 sowie 2021/22, wurde eine komplette Strassensperrung nötig.

Ohne geeignete Transportalternative wäre die Ortschaft während dieser Zeit von der Aussenwelt abgeschnitten gewesen. Der Kanton arbeitete darum eine Lösung aus – ein Autofährdienst, der die Kehrsiter im Stundentakt nach Stansstad und zurück bringt. Kostenpunkt: 2,4 Millionen Franken.

«Wir wurden ignoriert»

Bereits Ende September 2018, gut zwei Jahre, bevor die Sanierungsarbeiten überhaupt aufgenommen wurden, wandten sich die Familien Roth und Otto vorsorglich in mehreren Schreiben an das Amt für Mobilität des Kantons Nidwalden. Darin äusserten sie ihre Befürchtung, sie könnten bei dieser Übergangslösung vergessen gehen – weil ihre Häuser nicht im Dorfkern stehen, sondern an der vier Kilometer langen Zufahrtsstrasse. Sie hätten vergeblich auf eine Antwort der Behörde gewartet, sagen Roth und Otto. «Das zuständige Amt für Mobilität kümmerte sich nicht um unsere Situation und unsere Bedenken. Wir wurden ignoriert!»

Die Baudirektion des Kantons Nidwalden sagt auf Anfrage von Blick: «Wir sind generell immer bemüht, für alle von einer Baustelle Betroffenen eine annehmbare Lösung zu finden. Behinderungen sind indessen vielfach unumgänglich.» Aufgrund der örtlichen Gegebenheiten mit nur einer Zufahrtsstrasse nach und von Kehrsiten seien die Behinderungen in diesem Fall punktuell stärker ausgefallen, da kein Raum für alternative Lösungen vorhanden gewesen sei.

Dass der Kanton keine zumutbare Lösung vorbereitet habe, sei ihnen erst bei Baubeginn klar geworden, sagen Roth und Otto. Tagsüber von 8 bis 17 Uhr hätten sie zu Hause bleiben oder nach Voranmeldung zu Fuss über die Baustellen gehen sollen. Das Zeitfenster hätten sie meist bereits am Vortag aussuchen müssen, erzählen die betroffenen Anwohner. Brisant: Oft wurde der Durchgang laut Roth und Otto nicht für die gewünschte Zeit oder überhaupt nicht bewilligt. Sie seien regelrecht in ihren Häusern eingesperrt gewesen. «Wir hatten in dieser Zeit null Selbstbestimmtheit, null Flexibilität, null Lebensqualität. Das war willkürlicher Staatsterror!»

Über Baumaschinen klettern

Der Baudirektion sei es bewusst, «dass Einschränkungen für Betroffene unangenehm sein können, vor allem wenn diese über eine längere Zeit aufrechterhalten werden müssen», heisst es beim Kanton. Sie seien jedoch unabdingbar gewesen, um die Sanierung der Kehrsitenstrasse vornehmen zu können.

Die vermeintlichen «Einschränkungen» entpuppten sich aber schnell als lebensgefährlich, wie Bilder zeigen. Auf der Seeseite wurden die Geländer abmontiert, auf der im Winter vereisten Strasse standen Baumaschinen. Den Anwohnern blieben manchmal nur 10 bis 20 Zentimeter Durchgangsbreite – immer wieder mussten sie sogar über die Baumaschinen klettern. «Teilweise wurden während oder kurz vor den Zeitfenstern Sprengungen gemacht und loses Gestein fiel während des Durchquerens der Baustelle hinunter. Wir hatten Angst um unser Leben!», erzählt Erika Roth.

Hinzu kamen Baulärm, Staub, Baustellenverkehr und eine verspätete Postzustellung. Das alles war für die Betroffenen sehr belastend. «Man verliert die Leichtigkeit, wird schwermütig und schlussendlich krank!», erzählt Clemens Otto.

Aus Verzweiflung Anwalt eingeschaltet

Mehrfach haben die beiden Parteien das Amt für Mobilität und den damals zuständigen Baudirektor auf ihre Situation aufmerksam gemacht. Passiert ist nichts. «Wirklich ernst genommen haben die Behörden uns nicht oder sie waren überfordert. Stattdessen wurden wir mit Rechtsschriften zugemüllt – wohl in der Hoffnung, dass wir kapitulieren», sagt Otto.

Im Februar 2021 schliesslich schalteten Roth und Otto verzweifelt einen Rechtsanwalt ein – auch weil sie befürchteten, dass sich ihre Situation während der zweiten Bauetappe im kommenden Winter nicht bessern würde. Ihr Anwalt schrieb der Baudirektion, warf dieser vor, der Kanton würde jegliche Kontaktaufnahmen nicht nur nicht beachten, sondern schlichtweg ignorieren.

Die Behörden antworteten wenige Tage später: Man werde im Frühjahr 2021 auf die Parteien zugehen, um geeignete Lösungen zu finden. Dafür sei jedoch auch die Bauunternehmung miteinzubeziehen.

Und tatsächlich: Für die zweite Bauetappe im Winter 2021/22 konnte der Anwalt von Roth und Otto einen Kompromiss erstreiten. Dieser sah vor, dass die Parteien zusätzlich auch am Mittag Zugang zu ihren Häusern haben sollten. Zudem wurde ein Rufboot bereitgestellt, das auf Reservierung zu fixen Zeiten fährt.

Nur: Auf einmal war das Durchqueren der Baustelle, in der ersten Etappe durch den Kanton noch als zumutbare Lösung verkauft, ausserhalb der fixen Zeiten strikt untersagt – weil die Bauunternehmer der zweiten Etappe es als lebensgefährlich bezeichneten.

Entschädigung – mit Verzichtsklausel

Die Baudirektion offerierte als Entschädigung beiden Anwohnerparteien schliesslich nach langem Streit je 35'000 Franken – allerdings gebunden an eine Verzichtsklausel. Heisst konkret: Roth und Otto hätten keine weiteren Einwände und Forderungen vorbringen dürfen und auf jegliche rechtliche Schritte gegen den Kanton verzichten müssen. «Die Behörden wussten ganz genau: Was sie uns zugemutet haben, war schlicht rechtswidrig», sagen Roth und Otto empört.

Die beiden Parteien haben im Dezember 2021 bei der Staatsanwaltschaft Nidwalden eine Strafklage gegen die Verantwortlichen des Bauprojekts eingereicht, wegen Nötigung, Gefährdung des Lebens und Freiheitsberaubung. Die Staatsanwaltschaft teilte ein halbes Jahr später mit, dass sie kein Strafverfahren eröffnen wolle. Sie vertritt unter anderem die Meinung, es sei nicht ausgewiesen, dass beim Durchqueren der Baustelle eine Lebensgefahr bestanden habe.

Zurück bleiben die beiden resignierten Parteien. Sie fühlen sich von den Behörden hintergangen und betrogen. «Mit dem Resultat der Sanierung sind wir zwar zufrieden. Aber dass all dies auf unserem Buckel ausgetragen würde, nur damit man ein bisschen Geld sparen kann, hätten wir nie gedacht», sagen Roth und Otto. «Wir sind auch gegen die Verschwendung von Steuergeld. Aber niemals dürfen Menschenleben in Gefahr gebracht werden, um Kosten zu sparen», sagen die beiden.

Sie haben im Juli 2022 gegen den Entscheid der Staatsanwaltschaft Beschwerde beim Obergericht Nidwalden eingereicht.

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